Unser Thema ist die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Eupener Landes in französischer und preußischer Zeit, also seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Mag auch der Einmarsch der französischen Truppen ein tiefer Einschnitt in die Geschichte Eupens gewesen sein, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts in dieser alten Industriestadt sind nur verständlich, wenn am Anfang ein Rückblick auf die 1680 hier einsetzende Feintuchproduktion und die Lage der dort arbeitenden Menschen (1) steht.
Tatsächlich lassen sich hier schon Ansätze moderner Fertigungsmethoden feststellen, deren Anwendung wiederum entscheidenden Einfluss auf den Arbeitsablauf der „Facharbeiter", insbesondere der Tuchscherer hatte. Versteht man in Anlehnung an Jürgen Kocka unter „Arbeiterbewegung" die Gesamtheit kollektiver Bestrebungen von Lohnarbeitern mit dem Ziel, ihre ökonomische, politische, soziale und kulturelle Lage zu verbessern - bzw. zumindest deren Verschlechterung zu verhindern (2) - dies gekoppelt an das Aufkommen des industriellen Systems - so muss man in Eupen für das ausklingende 17. Jahrhundert von den Anfängen einer Arbeiterbewegung sprechen.
Die bis dahin in Eupen hergestellten einfachen und groben Tücher wurden im „Verlagssystem" produziert; der Kaufmann besorgte selbst nur die Rohmaterialien und übergab diese zur weiteren Verarbeitung an einen von ihm formal unabhängigen Tuchbereiter. Dieser, hier „Baas" genannt, lieferte erst das fertige Tuch wieder beim Kaufmann ab und trug auch das gesamte Risiko der Herstellung. Oft führte er nicht alle Arbeiten eigenständig aus, sondern vergab wiederum Teilarbeiten wie z.B. das Spinnen an andere Personen.
Soweit blieb das Produktionssystem auch bei der Feintuchherstellung beibehalten. Doch das Entscheidende für die Qualität der aus der wertvollen Wolle der spanischen Merinoschafe hergestellten Feintücher war die Appretur, d.h. die Nachbereitung der gewebten Tücher. Ja, diese war so bedeutend, dass der Kaufmann sie unter eigener Kontrolle im eigenen Haus, im sog. „Schererwinkel", ausführen ließ. Hier arbeiteten die zunächst von auswärts angeworbenen Scherer spätestens ab 1724 nach genau vorgeschriebenen Arbeitszeiten und im festen Tagelohn. Sie arbeiteten in der Form der „Kombination", worunter man „das Wirken einer größeren Arbeiterzahl zur selben Zeit, in demselben Raum, zur Produktion derselben Warensorte unter dem Kommando desselben Kapitalisten" versteht. Die Kombination bildete nach Marx „den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion".
In einem wichtigen Punkt unterschieden sich Eupen und das ganze Limburger Land von vielen anderen Orten, wo ebenfalls Feintuche hergestellt wurden: es gab hier keinerlei Zünfte, Gilden, Ambachten oder Innungen, durch die z.B. im benachbarten Aachen die Zahl der für einen Kaufmann tätigen Scherer damals auf vier begrenzt war. In Eupen wurde die Anzahl der für einen Kaufmann tätigen Scherer lediglich von dessen Bedürfnissen und dem ihm zur Verfügung stehenden Kapital bestimmt. Zünfte und ähnliche Gebilde konnten hemmend für die Produktion sein, andererseits waren sie oftmals für die dort organisierten Arbeitenden Schutzorganisationen. So wundert es nicht, dass die Eupener Tuchscherer immer wieder und mit allen Mitteln nach der Errichtung einer solchen Organisation trachteten.
1721 kam es zum wohl ersten Generalstreik in Eupen. Auslösendes Moment war, dass sich in einem Betrieb die Scherer bei der Bemessung der ihnen stündlich zustehenden Kurzpause hintergangen fühlten. Sie traten in den Ausstand, „sie machten den Winkel faul", wie dies in den von auswärts mitgebrachten Reglements für diesen Fall vorgesehen war. Als das Gericht gegen einige der Streikenden vorgehen wollte, kam es zum Streik in allen Schererwinkeln, da die Scherer in ihrem Selbstverständnis davon ausgingen, dass Streitigkeiten zwischen ihnen und den Kaufleuten nicht durch Dritte geschlichtet werden konnten, sondern dass dies nur durch Verhandlungen unter den direkt Betroffenen - sozusagen unter „Tarifpartnern" - zu geschehen habe. Da das Gericht nicht von den Verfolgungen ablassen wollte - und dies, obwohl einige Kaufleute versuchten, den zuständigen Meier mit einer ansehnlichen Geldsumme zu bestechen, da sie um das Verbleiben der Scherer fürchteten - verließen schließlich dreihundert Scherer Eupen, ein schwerer Schlag für das Feintuchgewerbe.
Die Sache musste geklärt werden: 1724 erließ Karl VI. in seinem „souveränen Rat in Brüssel" ein Dekret - „Ordonnatie weghens de Droogscherersgasten" - welches das Verhältnis zwischen Kaufleuten und Scherern in Eupen regeln sollte. Zwar schrieb dieses Dekret einen festen Tagelohn vor, regelte die Bezahlung der Überstunden und die Arbeitszeit, erlaubte den Scherern aber nicht, eine betriebsübergreifende Organisation auf Eupener Ebene zu bilden und verbot auch den Streik. Die Gründung eines Schiedsgerichtes konnte da nur ein geringer Trost sein. Vorgesehen war zwar, dass die Scherer in diesem neuen Gremium in der Mehrzahl sein sollten, doch die eingeschränkten Rechte, die dieser Institution zugebilligt wurden und auch das Verfahren zur Bestimmung der Mitglieder, das bei den Scherern Versammlungen für ganz Eupen ausdrücklich untersagte, führten mit dazu, dass die Scherer sich mit dem von oben „gewährten" Dekret nicht abfinden wollten. Auf allen Ebenen wurde dagegen agiert und vorgegangen: Interventionen beim Souveränen Rat und beim Gericht in Limburg; Versuche, mit Hilfe des Pfarrers Heyendal zumindest die Zulassung einer kirchlichen Bruderschaft zu erreichen, die eine Unterstützungskasse führen sollte und, als dies alles nicht fruchtete, offener Aufruhr. 1765 kam es in Eupen zum sog. „Läutebieraufstand".(3)
Als die Scherer sahen, wie erfolgreich die an diesen Unruhen Beteiligten den Bürgermeistern ihre Forderungen aufgezwungen hatten, schlossen sie sich dem Aufstand an und zwangen ihrerseits die Kaufleute, ihre Innungsbestrebungen anzuerkennen. Dieser unter Zwang zustande gekommene Vertrag wurde staatlicherseits rückgängig gemacht, Militär nach Eupen verlegt. Das Gericht ermittelte gegen die Rädelsführer, von denen aber fast alle sich zur Flucht entschlossen hatten. Obwohl nichts über eine Verurteilung der beiden Tuchscherer, derer die Staatsmacht tatsächlich habhaft wurde, bekannt ist, verließen nun doch wieder viele tüchtige Arbeiter und Scherer die Stadt. Bis zum Ende der österreichischen Zeit sind noch mehrfach Eingaben der Tuchscherer an den Souveränen Rat bekannt, um die Situation in ihrem Sinne zu ändern - allerdings ohne Erfolg!
1) Die Passagen, die sich mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung im Eupener Land bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts befassen, sind zusammenfassende Aussagen, die auf einer teilweise nur vorläufigen Sichtung umfangreicher Materialien beruhen. Eine ausführliche Studie, die die Frühindustrialisierung im Eupener Land und die Verhältnisse der arbeitenden Menschen zum Thema hat, ist in Vorbereitung. Vgl. auch: Hermans, Leo: Die Anfänge der Feintuchmanufaktur in Eupen, in: GE, 15 Jg. 1981, S. 163-169; Ders.: Die Tuchscherer - Eupens erste solidarische Arbeiterschaft, in ebd., 16. Jg. 1982, S. 150-171, liegt auch als Sonderdruck, Eupen 1982 vor; Kermann, Joachim: Die Manufakturen im Rheinland 1750-1833, Bonn 1972, hierinsbes. S. 101-104, 117 u. 134-144; Palm, Jo/Ruland, Herbert: Vom Läutebieraufstand und anderen Scherereien, in: Ausbildungsgang Touristiker der Volkshochschule der Ostkantone (Hrsg.): Reisebuch Ostbelgien, Eupen 1. Aufl. 1985, S. 14-20.
2) Vgl.: Kocka, Jürgen: Lohnarbeit und Klassenbildung in Deutschland 1800- 1875, Berlin (West)Bonn 1983, S. 165 ff.
3) Über die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinaus hatten die jungen Leute in der Stadt Eupen bei Todesfällen in ihrer Nachbarschaft das Recht, die Totenglocken in der Kirche zu läuten und das Begraben der Verstorbenen zu besorgen. Für diese Dienste wurden sie in Fässern Bier bezahlt, wobei bei reicheren Verstorbenen schon einiges zusammenkam. Teilweise wurde das Bier in Schnaps umgetauscht, es kam zu wüsten Trinkgelagen, sodass oftmals auch noch am nächsten Tag der „Fabrikbetrieb" ruhte. Dieser Tatbestand, aber auch schlampiges Beerdigen - die Gräber wurden nicht tief genug ausgehoben, zutage getretene Reste anderer Toter wurden nicht mehr vergraben - führten dazu, dass schließlich auf Anordnung aus Brüssel das Läuten und Begraben der Toten durch die jungen Leute untersagt und die Stadt u. a. verpflichtet wurde, einen Totengräber einzustellen. Doch noch im gleichen Jahr, 1765, kam es zum förmlichen Aufruhr. Beim Tode des Kindes eines Schusters verlangten die jungen Leute von einem der Bürgermeister die Herausgabe der Schlüssel, um das Läuten zu besorgen. Als dies verweigert wurde, stürmte eine Menge aufgebrachter Menschen (darunter auch „Fabrikmädchen") das Rathaus und zwangen unter Einschaltung eines Notars die Bürgermeister, einen Vertrag zu unterzeichnen, laut dem das Läuten und Begraben wieder erlaubt wurde und die Stadt eine Strafe in Bier und Geld an die Menge zahlen musste, vgl. hierzu u. a.: Heinen, Johann Gerhard: Pfarrgeschichte Eupens. Mit besonderer Berücksichtigung der Ortsgeschichte, Eupen 1896, S. 81-84; Jeuckens, Robert: Eupener Land und Volk im Wandel der Zeiten, Aachen 1935, S. 142-144; Palm, Jo/Ruland, Herbert: Vom Läutebieraufstand ... a .a. O., hier insbes. S. 15- 17