Die Voer damals, als alles noch in Ordnung war. Wo weder flämisch noch französisch gesprochen wurde, sondern ein niederdeutscher Dialekt. Wie übrigens auch in Gemmenich, in Eupen ... wenngleich auch mit bestimmten Lautverschiebungen. Sprachhistorisch sprechen wir von einem »Niederfränkisch-ripuarischen Mischgebiet«. Es herrschte in der Voer praktisch eine Defacto-Dreisprachigkeit. Während die Verwaltungssprache das Französische war, und auch die »Notabeln« in den Dörfern der frankophonen Bourgeoisie angehörten, sprach und lehrte der niedere Klerus Flämisch. Tatsächlich hatten die Lütticher Bistumsverantwortlichen, in der gutmütigen Auffassung, das Platt des Gebiets in den Voeren sei eher dem Flämischen zuzuordnen, verfügt, die Erziehung im allgemeinen, die religiöse im besonderen, sollten in Flämisch geschehen, während im Osten der Provinz das Deutsche obwaltete. Das Passepartout aber in den Voergemeinden war und blieb das Plattdeutsche.
Nichts störte das harmonische Nebeneinander. Die Sprachenzählung von 1930 ergab ca. 20 Prozent Französisch-sprechende, während die restliche Bevölkerung angab, sich eher des Flämischen zu bedienen, wobei der gesprochene Dialekt diesem fälschlicherweise zugeordnet wurde. Schon nach dem zweiten Weltkrieg allerdings - die Voer gehörte nach wie vor zur Provinz Lüttich - hatte sich das Bild gewandelt. Die Zählung von 1947 ergab nun, daß fast die Hälfte der Voereinwohner sich des Französischen bediente. Dieses überraschende Ergebnis kam deshalb zustande, weil diesmal klar zwischen dem Flämischen und dem örtlichen Platt unterschieden wurde und sich zudem die ökonomischen Bindungen ans Lütticher Land gefestigt hatten.
Dennoch, in der Voer blieb alles ruhig, wurden auch die ersten dunklen Wolken am gemeinschaftspolitischen Himmel Belgiens sichtbar. Für die Voer sollte der schwärzeste Tag aber erst noch kommen.
Der Gebietstausch
In den beginnenden 60er Jahren zeichnete sich eine Verschärfung der Spannungen zwischen Flamen und Wallonen ab, sodaß eine teilweise Föderalisierung unumgänglich wurde.
Im Zuge dieses einsetzenden Prozesses unternahm es die Regierung
LEFEVRE-SPAAK, die territoriale Zuständigkeit für jede Gemeinschaft durch die Festlegung der Sprachengrenzen zu definieren. Dabei kam es zu einem unglücklichen »Gebietstausch«, der die Voergegend, die bis dahin zu Lüttich gehörte, und die Gegend um Mouscron-Comines, die in Flandern lag zum Gegenstand hatte. Insbesondere die wallonischen Sozialisten drängten, aus wahltaktischen Überlegungen heraus, auf einen solchen Tausch, dem die anderen Parteien schließlich zustimmten: stimmenmäßig war es interessanter, das »rote« Mouscron-Comines der Provinz Hennegau einzuverleiben, und die christlich wählende Landbevölkerung der Voer der Provinz Limburg zu überlassen. Trotz Reaktion der Bevölkerung der sechs Gemeinden fand der Gesetzesvorschlag am 31. Oktober 1962 eine Mehrheit
Nichts geht mehr...
Seitdem geht nichts mehr! Die Voer ist zum Prellbock... und zum Prügelknaben der Nation geworden. Als dann mit Jose HAPPART auch noch einer der streitbarsten Frankophonen zum Bürgermeister gewählt wurde, war's aus mit der Ruhe im Voertal.
Eine neue Generation gibt heute in den Voergemeinden, hüben wie drüben, den Ton an. Wo die Alten noch sagen »Laßt uns unsere Ruhe!«, ist die jüngere Generation, die der Happarts, Broers ... aufgewachsen mit dem Feindbild des anderen. Die letzten zwanzig Jahre haben tiefe Wunden geschlagen, die, wie auch immer die Voerfrage gelöst werden wird, so schnell nicht vernarben werden.
Hier hat die Politik zum Kahlschlag angesetzt und Schlimmes geschaffen. Dies gilt umsomehr, wenn man bedenkt, daß es um das kleine Voergebiet eigentlich gar nicht geht!
Es geht um Brüssel!
Unausgesprochen aber deutlich für jeden der sich intensiver mit dem Problem beschäftigt, ist klar: es geht um Brüssel! Damals nämlich, bei der Ziehung der Sprachengrenzen, wurde der Kern Brüssels (die 19 Gemeinden im Zentrum) zum zweisprachigen Gebiet erklärt. Mehrere Randgemeinden allerdings kamen zu Flandern, mit Spracherleichterungen für dort wohnende Frankophone: Drogenbos, Linkebeek, Rhode St. Genese, Wesembeek-Oppem, Krainkem und Wemmel. Und hier nun ist inzwischen die Situation der in der Voer sehr ähnlich! Der Zug der Frankophonen, insbesondere einer sozial gut gestellten Gruppe, die der Enge und Hektik der Großstadt überdrüssig wurde, ist beträchtlich. Inzwischen ist durchaus denkbar, daß die Zahl der frankophonen Einwohner in diesen Randgemeinden höher liegt, als die der flämischen. Und dies wiederum heißt: wenn die demokratischen Rechte in der Voer, das Recht also einer Mehrheit der Bevölkerung, Vorrang hätte vor dem Bodenrecht, dem Recht auf das Territorium, und also aufgrund dessen die Voer wieder der Provinz Lüttich zugeordnet würde, dann müßte die gleiche Logik in Brüssel zu einer Loslösung der Randgemeinden und einer Zuordnung zu Wallonien führen! Genau das ist aber die Angst der Flamen, die diesen Wasserfalleffekt fürchten, und dies auch immer wieder deutlich machen (cf. Kasten: Voerkrise 1972!).
Es geht aber auch ... ums Geld!
Wer noch tiefer in die Problematik eindringt, erkennt sehr bald: der Weisheit aller Schluß ist... das liebe Geld!
Man stelle sich vor: eine Familie mit zwei völlig verschiedenen Söhnen, lebt mehr oder weniger in Eintracht, bis die Eltern sterben, und die Aufteilung der Erbmasse ansteht. Nun wird gefeilscht und gehandelt, wer was bekommt und wieviel's Wert ist. Genau so verhält es sich mit Belgien. Was bislang Einheitsstaat war, wird nunmehr föderalisiert. Wird aufgeteilt. Jeder rechnet! Und zwar so, daß sein eigener Anteil der bessere ist: die einen führen die Bevölkerungszahl an als Kriterium nach dem verteilt werden sollte, die anderen führen die Fläche an. Je nach (finanziellem) Interesse! Nun wird bei diesen Diskussionen in letzter Zeit immer häufiger als Kriterium genannt: die Aufteilung der »Erbmasse« nach steuerbarem Einkommen. Wer aber nun weiß, daß in der Brüsseler Gegend rund 14% des belgischen Bruttosozialproduktes erwirtschaftet wird, kann leicht errechnen wie wichtig es ist, wem die Brüsseler Randgemeinden mit ihrem hohen Steuereinkommen nun zugehören oder nicht!
Und das ist des Pudels Kern: das Geld natürlich!
Chronologie eines Gebietsaustauschs
14. November 1961
Innenminister G1LSON hinterlegt in der
Kammer einen Gesetzesvorschlag über den Verlauf der Sprachengrenzen.
Der von der Regierung LEFEVRE-SPAAK schließlich vorgeschlagene Text
behält das Gebiet von Mouscron-Comines bei Flandern, die Voer in der
Wallonie. |
5.Dezember 1961
Ein Abänderungsvorschlag des
PVV-Abgeordneten VAN-DERPOORTEN sieht vor, die Voer Flandern und
Mouscron-Comines Wallonien einzuverleiben. |
14.Februar 1962
Obwohl der Innenausschuß der Kammer dem
nicht zustimmt, schlägt die Stimmung in der öffentlichen Sitzung der
Kammer wieder um: eine Mehrheit, hauptsächlich aus Sozialisten, aus
wahltaktischen Erwägungen heraus, zahlreiche frankophone Liberale,
sowie einige flämische Christlich-Soziale sprechen sich für die
Einverleibung der Voer in Flandern, von Mouscron-Comines in die
Wallonie aus. |
15. Februar 1962
Eine Mehrheit von 135 Abgeordneten (bei 18
Nein, und 23 Enthaltungen) schlägt vor, daß die Voergemein-den
Flandern, Mouscron-Comines der Wallonie einverleibt wird. |
12. Juli 1962
Mit 80 Stimmen gegen 65, bei 8 Enthaltungen
willigt der Senat unter starkem sozialistischem Impuls der
Einverleibung von Mouscron-Comines in die Provinz Hennegau zu. |
17. Juli 1962
Das Gegenstück zu diesem Vorschlag, das das
Voer-gebiet zur Provinz Limburg bringen sollte, wird knapp abgelehnt.
Der »Gebietsaustausch« findet nicht statt, sodaß die Diskussion erneut
mit viel Vehemenz und Emotionen neu beginnen muß. |
9.Oktober 1962
Endlich ist es soweit! Senat (9.10.1962) und
Kammer (31.10.1962) stimmen einem neuen Text zu, der den
»Gebietsaustausch« schließlich stattfinden läßt.
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