Grenzgeschichte DG - Autonome Hochschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft

 

 

Die neue Macht in den Ostkantonen 

»Alle Macht dem Volke«, so steht es in unserer Verfassung. Es ist die große fromme Lüge der Demokratien, die auf Papier sich so darstellt: die Gesetze werden in Gremien gemacht durch Vertreter, die in freier und geheimer Wahl vom Volke bestimmt wurden.
Wie demokratisch oder nicht unsere parlamentarische Demokratie nun wirklich ist, war schon Gesprächsstoff zahlreicher berühmter Politologen. Wir wollen hier versuchen, einen lokalen Aspekt mitaufzuzeigen und in die Diskussion einzubringen: die zukünftigen Strukturen des Staates in Ostbelgien
.


Karl-Heinz Lambertz (Photo) vertritt unser Gebiet im sogenannten »Einundzwanzigerausschuß«, richtiger im »Ausschuß für das harmonische Zusammenleben der Gemeinschaften«.
Dieser Ausschuß ist zuständig für Lösungsvorschläge für besonders schwierige Fragen der Staatsreform, d.h. Fragen, von denen angenommen wird, daß es die eigentlichen Kernfragen der Staatsreform sind, oder besser gesagt, Fragen, wo die Meinungen am weitesten auseinandergehen.


Die Strukturen des belgischen Staates...
insofern sie uns hier interessiert, lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen: alle vier Jahre wählt jeder Bürger über 18 Jahre die Vertreter der gesetzgebenden Kammern (Senat und Kammer), die legislative Gewalt. Die so gewählte Legislative benennt die ausführende Gewalt oder Exekutive, d.h. die Minister, die die Regierung ausmachen.

Damit ist das Bild allerdings noch nicht abgerundet, denn ein weiterer, wichtiger Faktor des politischen Lebens in Belgien fehlt in dieser Anordnung : die Experten, die Techniker und Fachleute, sprich die Verwaltung, die der Exekutive zugeordnet ist, und helfend, vorbereitend, planend oder bremsend zur Seite steht.

... und wer was zu tun hat.

Die Rolle der Legislative ist eine dreifache:
- sie macht die Gesetze, d.h. relativ abstrakte, unpersönliche und allgemeine Regeln zu bestimmten Sachgebieten.

- sie stimmt für oder gegen die Haushalts- und Finanzpolitik der Exekutive,

- sie kontrolliert die exekutive Gewalt, also die Regierung, beispielsweise indem sie sie durch ein Misstrauensvotum zu Fall bringt.

Die Rolle der Exekutive ist ebenfalls eine dreifache:
- sie führt die Gesetze und Normen aus, und wacht über deren Anwendung. Dabei hat sie einen gehörigen Interpretationsspielraum.

- sie nimmt im Rahmen dieser Gesetze Initiativen.

- und schlägt der Legislativen die Abänderung oder die Einführung neuer Rechtsnormen vor.

Sie tut dies, indem sie sich beraten lässt durch Techniker, Experten und Beamte, die auf Lebenszeit ernannt und als solche der Exekutive zugeordnet sind. Tatsächlich hat die zunehmende Komplexität der Sachgebiete und Entscheidungen es unumgänglich gemacht, solche Techniker für die einzelnen Bereiche zu benennen. Grundsätzlich lässt sich unterscheiden zwischen der aktiven Verwaltung, Beamte die auf Lebenszeit bestimmte Stellen besetzen, und den ministeriellen Kabinetten, Technikern und Fachleuten, die der betreffende Minister für die Zeit seines Mandats jeweils "mitbringt", und die meist seiner parteipolitischen Linie treu sind.

Alleine die Legislative, die gesetzgebende Gewalt also ist wählbar, und hat sich alle vier Jahre der mehr oder minder kritischen Einschätzung des Bürgers zu stellen.

Gefährlich wird diese Feststellung dann, wenn die Macht der Exekutiven oder der Verwaltung zu groß wird. Dazu ein besonderer Kenner der politischen Szene in Belgien, A. Molitor: „Aber in dem Maße, in dem sich die Staatszuständigkeit ausdehnte... ließ die tatsächliche Rolle des Parlaments nach. Eine zunehmende Anzahl von Verordnungen normativer Art wurde direkt durch die exekutive Gewalt genommen: sicherlich wählen die Kammern noch Gesetze, aber die meisten unter ihnen sind nicht mehr auf parlamentarischer Initiative zustande gekommen: die Texte wurden ausgearbeitet durch Verwaltungen, Ministerialkabinette...“. (in "L'Administration en Belgique")

Fordern bis zur Überforderung?
Im Rahmen der Neustrukturierung des belgischen Staates wurde 1973 der Rat der deutschen Kulturgemeinschaft eingesetzt, ein Gremium, dem gesetzgebende Gewalt im kulturellen Bereich zukam. Berechtigte Forderungen waren erfüllt worden. Alle vier Jahre normalerweise, ist der Bürger im hiesigen Gebiet aufgerufen, die Volksvertreter in dieses legislative Gremium zu wählen.

Schon bald aber stellte sich heraus, dass alles so gold nicht war, was da glänzte.
Tatsächlich hatte der RdK nominative Befugnisse nur in der Budgetpolitik, tatsächlich blieb die exekutive Gewalt in Brüssel und eine Verwaltung war nur rumpfartig vorhanden. Das jedenfalls waren die Seufzer, die hörbar unsere Politiker in Richtung Brüssel vorbrachten.

Einen anderen Seufzer, weit weniger publik geworden, taten dann und wann die hiesigen Organisationen und Vereine, die die "gemachten" Gesetze und Verordnungen anzuwenden hatten.

Derweilen nämlich stellte man fest, dass unsere Politiker, trotz ihres Einsatzes und ihres Fleißes, keine vollberuflichen, sondern solche mit "Amateurstatut" waren.

Waren sie nicht überfordert
? Verständlich wäre es, dass Politiker, die voll im Beruf stehen, die Zeit nicht finden, sich in komplexe Materien einzuarbeiten.

Dennoch, man forderte weiter - und wird wohl auch erreichen, was. zu erreichen ist:
die Ausdehnung der Kompetenzen des RdK auf die sogenannten "personenbezogenen Angelegenheiten": zum Beispiel den Jugendschutz, große Teile der Gesundheitspolitik, die berufliche Weiterbildung, usw
· die eigene Exekutive
·
die eigene Verwaltung

Darüber hinaus
, man staune, wird zudem wirtschaftliche Autonomie in Bereichen gefordert, die "zu verkraften" sind. Wie aber, das ist dann wohl die Königsfrage, wollen unsere Politiker diese neuen Bereiche in den Griff bekommen? Wer wird im hiesigen Gebiet beispielsweise die Gesetze zum Jugendschutz anpassen? Sicherlich: auch wir haben Fachleute. Aber - und das ist anzumerken - nur wenige die alle vier Jahre sich dem Bürger zu verantworten haben.

Die Hoffnungen der Parteien beruhen auf dem Aufbau der Verwaltungen, in die sie "ihre" Leute, "ihre" Techniker unterbringen werden. Sie werden dann wohl Gesetzesvorschläge ausarbeiten, die dann durch die Politiker vorgeschoben und zu den ihren gemacht werden. Inwieweit aber werden unsere "Amateurpolitiker" (und dies ist nicht negativ gemeint) ihre eigenen Fachleute noch kontrollieren können? Gilt hier nicht speziell was A. Molitor für Belgien allgemein anführte: Demokratieverlust?

Die neue Macht der Ostkantone, dies ist offensichtlich, entsteht. Einige Technokraten in Verwaltungen werden die Ostkantone regieren können, ohne sich jedem Bürger verantworten zu müssen.

Auf die Finger schauen?
A. Molitor in seinem bemerkenswerten Werk, "L'Administration en Belgique", gibt drei übliche Möglichkeiten an, der Verwaltungsmacht „auf die Finger zu schauen“:
- eine nicht zu unterschätzende Form der Kontrolle ist die "innere", durch den hierarchischen Aufbau der Verwaltung. Sie scheint natürlich und logisch; ist in den momentanen politischen Verhandlungen wesentlich, für den "Normalbürger" aber kaum einsehbar, geschweige denn beeinflussbar.

- die zweite Kontrollmöglichkeit ist politischer Art, und nimmt zwei Formen an: zum einen die Möglichkeit für jeden Vertreter der Legislativen durch das sogenannte System der "Fragen und Antworten", die Exekutive über ihre Politik zu befragen; zum anderen die Annahme (oder nicht) der Finanz- und Haushaltsvorschläge, die die Verwaltung und die Exekutive ausarbeiten, und den gewählten Volksvertretern, der Legislativen, vorschlagen.

-
Inwiefern aber, das ist die Frage, werden "Amateurpolitiker" (noch einmal: dies ist keineswegs negativ gemeint), den "Vollprofis" der Regierung und Verwaltung Paroli bieten können?

- die dritte Kontrollmöglichkeit sieht Molitor in einer "sozialen "Kontrolle", durch Druckgruppen und Interessenverbände von außen. Zumeist sind diese Möglichkeiten in Belgien institutionalisiert worden, durch das Einsetzen einer sogenannten „begutachtenden Verwaltung“, d.h. Gremien, die die Benutzer der Politik zusammenführen (z.B. die Sozialpartner im Wallonischen Wirtschaftsrat; die Jugendorganisationen des hiesigen Gebietes im Rat der deutschsprachigen Jugend), und die der Exekutiven zugeordnet sind, um im Rahmen ihres Kompetenzbereiches Gutachten auf eigene Initiative oder auf Anfrage der Exekutive abgeben.


Die Arbeiterschaft im zukünftigen Ostbelgien
Für die organisierte Arbeiterschaft scheint das System der "begutachtenden Verwaltung" die beste Lösung zu sein, im Ostbelgien von morgen Gewicht und Stimme zu halten. Und tatsachlich waren es Arbeitervertreter, die erstmals aussprachen, dass eine "Erweiterung der Kompetenzen des RdK auf wirtschaftlicher Ebene nur durch gleichzeitige Einsetzung eines begutachtenden Gremiums - ähnlich dem Wallonischen Wirtschaftsrat akzeptabel wäre (Kollegium der Fakultät für Politikwissenschaften zum Thema "Quelle autonomie pour la région germanophone?" im Frühjahr 1979). Am 24. November 1979 anlässlich des Regionalkongresses der CSC forderte die Metallerzentrale die Schaffung einer Zelle für die deutschsprachige Gegend im wallonischen Wirtschaftsrat, und sprach sich auf der Kundgebung vom 17. Dezember 1979 gegen eine Erweiterung der RdK Befugnisse auf wirtschaftliche Bereiche aus.

In diesem Zusammenhang drängen sich zwei Fragen unmittelbar auf:
1. Werden im Gebiet deutscher Sprache diese begut
achtenden Räte geschaffen? Die bisherige Praxis diesbezüglich zeugt nicht vom Enthusiasmus der betroffenen Verantwortlichen : sieben Jahre blieb der RdJ provisorisch; seit 2 Jahren ist dies der Fall für den Provisorischen Rat für Volks- und Erwachsenenbildung; ein Benutzerrat (oder Hörrat) für den BRF, wie er in den anderen Landesteilen besteht, wurde nicht eingerichtet… Wird man dann daran denken, einen Höheren Rat für Familie, einen Rat für Ausländer, usw... allesamt begutachtende Räte, die der Exekutiven in den anderen Landesteilen zur Seite stehen, einzusetzen?

2. Selbst wenn auf diese Art und Weise das demokratische Mitspracherecht des kleinen Mannes mehr oder minder gewahrt bleibt, ist die Frage zu stellen, ob die organisierte Arbeiterschaft diese Herausforderung aufgreifen kann? Welche soziokulturelle oder wirtschaftliche und soziale Organisation im hiesigen Gebiet hat schon die Mittel, ein eigenes Studienbüro einzurichten, Experten zu bezahlen und in diese Räte zu delegieren. Stellt sich diesen Organisationen in ihrer Rolle gegenüber den Fachleuten der Verwaltungen nicht das gleiche Problem, wie es vorher für die Politiker aufgezeigt wurde?

DER ORGANISIERTEN ARBEITERSCHAFT IST EINE SCHWIERIGE ZUKUNFT SICHER.

 

 

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EXTERNE AUFTRÄGE


Koordination der „Aktionstage Politische Bildung“


Demokratieerziehung in Brüssel


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in der „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research“


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft im pädagogischen Beirat des „Jüdischen Museums der Deportation und des Widerstandes in Mechelen“


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft im Verwaltungsrat der Gedenkstätte Breendonk



 

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