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Die 1. internationale in Verviers - Teil 1
Mit der freundlichen Genehmigung des Autors JACQUES WYNANTS veröffentlichen wir in dieser und in der nächsten Zaungast-Nummer, integral, das Kapitel «L' Internationale à Verviers», aus dessen 1983 erschienenen Werk «Ainsi naquit une Industrie».
Auf den Autor nochmals einzugehen (siehe Zaungast Nr. 4-Dezember 1983) ist sicher nicht vonnöten. Auch für die Arbeiterschaft des deutschsprachigen Gebietes des Bezirks Verviers ist und wird Jacques Wynants immer ein «Monument» sein. Seine Persönlichkeit und sein jahrelanger Einblick in die Welt des Arbeiters garantieren eine seriöse Analyse der Lage des arbeitenden Menschen.
Im hier rübersetzten Kapitel schildert er das Entstehen der Internationalen, die Einflüsse der sie unterlag, und die wirtschaftliche und soziale Lage, die ihr als Nährboden diente. Dabei spielten die zahlreichen deutschen Einwanderer eine wichtige Rolle. Sie stellten 1871, so Wynants, «ein Viertel der Gesamteinwohnerschaft dar». Für die Eupener Gegend gibt dies einen Blick frei auf den massiven Einfluss den diese Internationale auf die große Eupener Streikbewegung des Jahres 1872 zu nehmen versuchte. Dies wiederum führte bei uns zum verstärkten Einsatz katholischer Geistlicher für die hiesige Arbeiterschaft, Ein entscheidender Moment für die Arbeiterbewegung bei uns!
Wegbereitung - Entstehung
DIE GEISTIGE VORARBEIT
Am 28. September 1864 in London gegründet, tritt die von Marx und Engels angeregte Internationale Vereinigung der Arbeiter in Belgien zum ersten Mal im Jahre 1865 in Erscheinung. Zwei Jahre später fasst die Bewegung in Verviers Fuß.
Ist die Tatsache, dass sie in dieser Region ziemlich schnell an Bedeutung gewann, darauf zurückzuführen, dass das «Terrain» geebnet worden war, die Menschen bereits geistig vorbereitet waren?
Um darauf eine annehmbare Antwort geben zu können, muss man sich fragen, welchen Einfluss in der Vervierser Region die Ideen der als «utopische Sozialisten» bezeichneten Sozialformatoren gehabt haben können. Letztere waren Sozialisten insofern, als sie sich dem absoluten Liberalismus und dem Laisser-Faire in wirtschaftlichen Belangen widersetzten, und Utopisten insofern, als sie den allgemeinen Problemen des Lebens mit einer Globallösung begegnen wollten. Einem allumfassenden, sich selbst regulierenden Mechanismus, der aufgrund seiner Funktionsweise die Befriedigung der wesentlichen menschlichen Bedürfnisse gewährleisten sollte. Diese Denker (insbesondere Fourier, Proudhon, St. Simon) waren Ideologen die sich an das philosophische System hielten, sich aber nur in geringem Maße für die konkrete Situation der Arbeiterklasse interessierten und sich auch kaum kannten, im Gegensatz zu Marx und Engels, deren Doktrin auf die Beobachtung wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten beruhte.
Es lässt sich kaum etwas über den Einfluss dieser Denker in der Vervierser Region sagen, ein solcher ist zwar zu vermuten aber schwerlich anhand von Faktur zu zeigen.
Man kann allerdings annehmen, dass das libertäre Gedankengut und das ihm eigene Misstrauen gegenüber jedwelcher Form zentralistischer Machtausübung bei einer freiheitlich und auf Selbstbehauptung gegenüber der Lütticher Zentralgewalt bedachten Bevölkerung, breiten Anklang fand. Ein gewisser Hang zum Individualismus war wohl auch auf die besondere geographische Situation - die unmittelbare Nähe dreier angrenzender Staaten - zurückzuführen.
Muss man den Vervierser Arbeitern einen außerordentlich entwickelten Hang zum Spekulativen bescheinigen? Man ist geneigt dies zu tun, wenn man ihre Vorliebe für Diskussionen, Streitgespräche und Gedankenaustausch kennt. Auf bestimmten Arbeiterzusammenkünften, von denen später noch zur Genüge die Rede sein wird, gehen die Teilnehmer sogar soweit, sich zu den Anwälten der entgegengesetzten Thesen zu machen, «damit die Wahrheit deutlicher zutage trete».
Das Demokratiebewusstsein, das sich im Zuge der französischen Revolution entwickelt hatte, aber immer wieder auf Hindernisse gestoßen war, hatte die Gemüter stark geprägt. 1848 hatten die demokratischen Einflüsse sich immerhin bereits eines Teils der fortschrittlichen Vervierser Bourgeoisie bemächtigt.
L. DECHESNE behauptet, dass der Kern der 1. Internationalen in Verviers von «einigen Anhängern Proudhons» gebildet wurde. Es muss sich hier wohl um eine mündliche Tradition gehandelt haben, denn weder in den Werken und Briefen Proudhons, noch in seinen zur Veröffentlichung freigegebenen Tagebüchern, findet man die geringste Anspielung auf Verviers. Er verbrachte allerdings 1859 und 1862 einige Zeit in Spa bei seinem Freund Felix DELHASSE. Letzterer war «ein Radikaler im absoluten Sinnendes Wortes».
Er gewährte Proudhon finanzielle Unterstützung, und ihre Beziehung war immerhin so eng, dass Proudhon es akzeptierte ein halbes Jahr auf Kosten seines Freundes zu leben und ihn zu einem seiner Testamentsvollstrecker machte. Während seines Aufenthaltes in Spa durchstreift Proudhon die Gegend, aber er schien weder dem wirtschaftlichen Aufschwung Verviers, noch dem Schicksal der Arbeiter Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Man muss hinzufügen, dass Spa eine allseits bekannte Stadt war, die von zahlreichen Freunden besucht wurde, hauptsächlich von der europäischen Aristokratie und von vielen Vertretern der damaligen Intelligentsia. Es bestand keine Verbindung mit der grauen Industriestadt Verviers. Es ist schon seltsam, dass jemand der die dort ansässige militante Arbeiterschaft auf so nachhaltige Weise durch seine Ideen geprägt hat, während seines Aufenthaltes in der Region keinerlei Kontakte zur Welt der Arbeiter pflegte.
Der Vervierser Maler und Philosoph H.F. HANSAY war ein überzeugter Anhänger Proudhons. FLUSE, ein Arbeiterführer und einer der führenden Männer der 1. Internationalen, war 18 Jahre, als Proudhon zum ersten Mal Spa besuchte. Nichts lässt darauf schließen, dass es zu einer Begegnung gekommen ist, obwohl FLUSE ohne jeden Zweifel ein ernstzunehmender Proudhonist war.
Einer, der bestimmte Vervierser mit Sicherheit beeinflusst hat, war St.Simon. 1831 trafen sich die Jünger St. Simons in Brüssel, wo ihnen ein überaus schlechter Empfang bereitet wurde. Sie wandten sich der Provinz zu, hielten Vorträge in Lüttich und dann auch, am 8. Juni in Verviers, wo der Chef der belgischen Vertreter, DUVEYRIER «vor einer großen Zahl von Zuhörern», die Ideen des großen Meisters darlegte. Die Doktrin muss bei einigen Teilnehmern großen Anklang gefunden haben. So wird sogar von einem Vorhaben berichtet, in Verviers eine «St. Simon-Familie» ins Leben zu rufen. Ein gewisser Auguste HOART verbreitete 1834 die Ideen St. Simons in Verviers und Dison. Die Bemühungen der St. Simon-Anhänger fanden zwar in Belgien mehr Unterstützung als anderswo, doch großer Erfolg war ihnen nicht beschieden. Es scheint, dass lediglich Kreise der Bourgeoisie und Intellektuelle sich zu den Reformatoren hingezogen fühlten.
FOURIER fand seinerseits nur auf indirektem Wege Zugang zum Vervierser Arbeitermilieu. Während seines Aufenthaltes in Belgien, im Jahre 1848, sorgte Victor CONSIDERANT, einer seiner wichtigsten Gesinnungsgenossen, für die Verbreitung der fourierristischen Ideen, in Lüttich vor allem... Die Vervierser Region, genauer gesagt Dison, hat selbst einen originellen Denker hervorgebracht: den Baron de Colins, Begründer des nach ihm benannten rationalen Sozialismus, dem eine 1968 veröffentlichte Studie gewidmet ist. Adliger Abstammung, wurde er, während der Wirren der Revolution, vom Pater DEBOUCHE, einem Geistlichen aus Dison, aufgenommen, der seine Erziehung übernahm und ihm eine «große intellektuelle Neugierde» einimpfte. Colins führte ein dem Ideal dieser Epoche - der Romantik - entsprechendes abenteuerliches Leben. Er studierte in Paris, war Offizier in der «Grande Armée», wohnte der Abdankung Bonapartes in Fontainebleau bei, arbeitete als Arzt in Kuba, studierte erneut in Paris, wo er, gegen Ende seines Lebens, den rationalen Sozialismus entwarf, dem allerdings nur ein begrenzter Erfolg beschieden war, und der im Spektrum der sozialistischen Theorien einen unbedeutenden Platz einnimmt.
Es gab allerdings in Verviers kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Gruppe Colins-Anhänger. Colins ist nie nach Verviers zurückgekehrt. Hat er vor 1870 irgendeinen lokalen Einfluss ausgeübt? Es gibt keinerlei Beweise dafür.
Es muss auch erwähnt werden, dass diese Denker sich kannten und sich gegenseitig kritisierten, oft mit einiger Vehemenz. Sie waren Kinder ihrer Zeit, einer Zeit in der, nach dem Einsturz der alten, eine neue Ordnung geschaffen werden sollte, die oft utopische Züge trug. Es war eine Zeit der raschen Umwälzungen und tief greifenden Veränderungen, eine Zeit wie geschaffen für Utopien, die mit allem Bestehenden kurzen Prozess machen wollten. Es gab sogar einen Versuch einer belgischen Kolonialisierung Guatemalas, unter der Schirmherrschaft des Königs, mit dem Ziel der Schaffung einer großen Kommunistischen Produktionsgenossenschaft dank der Vereinigung von Kapital und Arbeit.
Verviers ist wohl von dieser Umbruchstimmung nicht unberührt geblieben und sei es nur dank des Zutuns einer der großzügigen Geister, denen das Elend der Arbeiter ein Dorn im Auge war und die etwas dagegen unternehmen wollten, ohne sich jedoch über die Art und Weise voll und ganz im Klaren zu sein. Die Zeit war reif für ein solches Unterfangen.
EIN NEUER GESETZLICHER RAHMEN
Während auf der einen Seite aufgeklärte und großzügige Menschen von einer neuen, besseren Gesellschaftsordnung träumten, machten andere sich daran, neue gesetzliche Möglichkeiten zu schaffen. Die Aktiengesellschaft kam den Interessen der Industriellen entgegen, die danach trachteten, ein größtmöglichstes Kapital zu vereinen und nach Belieben zu verwenden. Sehr rasch herrscht in dieser Hinsicht die totale Freiheit. An diesem gesetzlichen Rahmen hat sich bis heute nichts geändert, obschon er offenkundig den Gegebenheiten des Endes des 2O. Jahrhunderts nicht mehr entspricht.
Was die sozialen Beziehungen betrifft, so ist vor allem die große Änderung von 1866 zu erwähnen: Die Abschaffung des Koalitionsdeliktes. Seit 186O umstritten, dauerte es sechs Jahre, ehe sich die Erkenntnis durchsetzte, dass «das beste Mittel zur Verhütung von Gewaltanwendung im Zusammenhang mit Arbeiterkoalitionen die Legalisierung friedlicher Koalitionen ist». Damit ist der Streik erlaubt, legal, wenngleich in der Praxis noch mit Schwierigkeiten verbunden. So sieht vor allem Artikel 310 des Strafgesetzbuches erhebliche Einschränkungen vor, die die gewerkschaftliche Aktionsfreiheit einengen, und dem Streik viel von seiner Wirkung nehmen. Man wird bis 1921 warten müssen, ehe die letzten Hindernisse beiseite geräumt sind.
DIE WIRTSCHAFTLICHE UND SOZIALE LAGE
Wir beziehen uns hier auf die Jahre 1867 bis 187O, also die Zeitspanne/in der die 1. Internationale in Verviers entsteht und sich entwickelt. 1867 ist ein krisengeschütteltes Jahr, es herrscht Arbeitsmangel. Man sieht sich gezwungen die Nachtschicht abzuschaffen und nur noch 9 bis 1O, statt 12 bis 14 Stunden wie üblich, zu arbeiten. (Ein bezeichnendes Eingeständnis)
Der Grund für die schlechte Wirtschaftslage ist die Rüstungspolitik der Staaten und die damit verbundenen hohen Militärausgaben. Die USA, die vier Jahre Bürgerkrieg hinter sich haben, betreiben eine protektionistische Politik, in der Hoffnung, ihre angeschlagene Industrie neu aufbauen zu können. 1866 ist das Jahr des österreichisch-preußischen Krieges, der Choleraepidemie, der schlechten Ernten usw... Kurz, die Krise schlägt zu, in jeder Hinsicht. Der Getreidepreis steigt innerhalb eines Jahres um 3O bis 35 Prozent, die Löhne werden gesenkt, die Arbeiter müssen ihren Konsum einschränken. 1868 tritt keine Besserung der Lage ein: Ein gewisser Aufschwung ist erst ab 1869 zu verzeichnen, während das Jahr 187O durch abwechselnde Zeiten des Wohlstandes und der Rezession gekennzeichnet ist. Es ist ein unruhiges Jahr, das gut endet. Daran ist der deutsch-französische Krieg von 187O nicht ganz unschuldig: «Die Wollindustrie war der Nachfrage aus Deutschland kaum gewachsen».
Man sieht, es ist eine von plötzlichen, kurzen Perioden des Aufschwungs unterbrochene Zeit der wirtschaftlichen Stagnation. Ein Zustand, der für die Arbeiter untragbar ist und massive Unzufriedenheit schürt.
Um die Wohnverhältnisse ist es äußerst schlecht bestellt. Es ist im Übrigen mehrfach nachgewiesen worden, dass sie ein erhebliches Hindernis für das Übersiedeln ausländischer Arbeitskräfte darstellten, die die hiesigen Arbeitgeber einzustellen gedachten. Die Stadt Verviers z.B. verfügte über keine Abwasserkanalisation. Fast jede Stadt hat ihr Arbeiterviertel, in denen das Proletariat unter widrigsten Verhältnissen lebt, zusammengepfercht in winzigen, abstoßend dreckigen Wohnungen, die wahre Epidemieherde sind. Das Vervierser Viertel umfasst die Straßen: rue de Hodiamont, rue Fyon, rue de la Montagne, das Viertel Prés Javais, den Platz am Schlachthof und die umliegende Gegend, die zahlreichen Sackgassen, wo nie ein Sonnenstrahl hinfällt. Diese Viertel, oder besser, das was davon übrig geblieben ist, dienen noch heute den Gastarbeitern aus Griechenland, der Türkei als Wohnquartier.
In 1871 stieg die Einwanderungsquote auf Rekordhöhe: «Die Deutschen stellen ein Viertel der Gesamteinwohnerschaft dar, den offiziellen Angaben zufolge sind es deren 8.OOO (Juli 1878). Fast alle sind Industriearbeiter, oder gehören genauer gesagt, der Arbeiterklasse an».
Es sollte auch erwähnt werden, dass zu diesem Zeitpunkt eine Immobiliengesellschaft der begüterten Schicht Verviers Baugelände auf der südlichen Talseite zum Kauf anbietet. Diese neuen, luftigen grünen Viertel mit ihren breiten Alleen, tragen die Bezeichnung «Les Boulevards» und bilden heute noch einen Kontrast zum übrigen Teil der Stadt.
BRÜSSELER EINFLÜSSE
Die Ursachen für ein so außerordentliches Ereignis, wie es die Bildung einer Sektion der 1. Internationalen in Verviers war, sind vielfältig und schwer einzuschätzen. Fest steht, dass sich auf intellektueller Ebene in Verviers zu jener Zeit einiges getan hat, was allein schon durch die Tatsache belegt wird, dass sich eine Reihe von Gruppen bildete, die sich für die Arbeiterfortbildung und die Besserung der sozialen Zustände einsetzte.
Eine dieser Zellen, «Reform durch Aktion», die sich nahezu ausschließlich aus Arbeitern zusammensetzte, hatte sich die Durchsetzung der Reform des Zenzuswahlrechtes zur Aufgabe gemacht. Diverse Vorhaben, die auf eine Verallgemeinerung des Wahlrechtes hinzielten, standen zur Diskussion: nicht nur von einer Herabsetzung des Zens war die Rede, sondern auch von der Möglichkeit, alle Bürger zur Wahl zuzulassen, die lesen und schreiben konnten. Das Vorhaben war in zweifacher Hinsicht interessant: zum einen hieß dies, dass eine große Zahl der Arbeiter wählen durfte, vor allem jene, die einen Beruf ausübten, in dem Lesen und Schreiben können erforderlich war und zum anderen leistete es einer weiteren Alphabetisierung der Bevölkerung Vorschub. Die Reformpläne wurden von einer breiten Propaganda getragen, die sich, ausgehend von einem Zentralkomitee in Brüssel, auf das ganze Land ausweitete.
In einem zweiten Teil, den wir dann im nächsten Zaungast bringen, schildert der Autor das Innenleben der Vervierser Abteilung der Internationalen, ihre Veröffentlichungen und Aktivitäten.
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