Grenzgeschichte DG - Autonome Hochschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft

 

 

20 Jahre Volkshochschule der Ostkantone  

Offiziell angefangen hatte alles an jenem Samstag, dem 9. Januar 1966, in der Jugendherberge in Ovifat. Unter den recht zahlreichen Ehrengästen befand sich auch Max Bastin, einer der nationalen Verantwortlichen der Christlichen Arbeiterbewegung, der fünf Jahre zuvor das «Institut Supérieur de Culture Ouvrière» gegründet hatte

«Wir müssen zutiefst daran glauben, dass es möglich ist, die bestehende Ordnung umzuwerfen, die seit der Industrialisierung an der Macht ist und die anderen zu Sklaven macht. Denn alles wurde durch und auf das Geld aufgebaut, die politische, die wirtschaftliche, die kulturelle und die soziale Macht. Wir müssen zutiefst daran glauben, dass dieser Umsturz über nicht immer angenehme, aber doch friedliche Wege möglich ist. Einer der Hauptwege ist die Volksbildung ...»

Das war die Idee, die ihn beseelte. Deshalb hatte er sich für die Gründung einer Erwachsenenbildungsstätte im Rahmen der organisierten Arbeiterschaft eingesetzt, deren Ziel die systematische Weiterbildung der Arbeiter sein sollte.

Die erste VHS-Klasse

In Ostbelgien hatte die Sache begonnen, als mit Emil Creutz ein Deutschsprachiger in die Dienste der CAB in Brüssel trat, der seiner Heimat noch eng verbunden war. Mit der Idee, ein deutschsprachiges ISCO zu gründen, trat er an den hiesigen CAB-Sekretär, Charles Richter heran. Dazu dieser anlässlich der Eröffnungsfeier am 9. Januar 1966:

«...mir kamen Zweifel, ob eine solche Initiative in unserem
Gebiet Erfolg haben kann, denn man hat ja in anderen Gegenden festgestellt, dass es nicht leicht ist, die erforderliche Anzahl Schüler zu finden.»
Man sei deshalb von der üblichen Formel abgewichen, und habe eine Übereinkunft mit dem Belgischen Bauernbund erzielt, so Charles Richter weiter.

Und dies war wohl der zweite glückliche Zufall, der am Anfang eines deutschsprachigen ISCO, der Volkshochschule der Ostkantone, gestanden hat: Die persönliche Freundschaft, die E. Creutz mit Heinrich Cremer, dem Hauptverantwortlichen des Belgischen Bauernbundes in Ostbelgien, verband. Die Überlegung, durch das Zusammenarbeiten der beiden großen Sozialbewegungen Ostbelgiens alle Schwierigkeiten - und insbesondere die Tatsache, dass das Einzugsgebiet recht klein war - leichter meistern zu können, brachte den Durchbruch.

Die nötigen Vorbereitungen waren schnell getan: die Hauptverantwortlichen des Bauernbundes in Löwen überzeugen, die ersten Subsidienversprechen einholen und schließlich den Lehrgang konkret planen. Am 13. Januar 1966 konnte «Der Bauer» vermelden: Mit einer eindrucksvollen Feierstunde wurde am vergangenen Samstag die erste Volkshochschule der Ostkantone feierlich eröffnet. 37 Schüler hatten sich eintragen lassen, wesentlich mehr als ursprünglich erwartet, zumal die Anmeldungen zunächst nur zögernd eintrafen, und die Organisatoren der Volkshochschule ... schon beinahe damit rechnen mussten, ihren Plan wegen fehlenden Interesses fallenlassen zu müssen.

Außer der schließlich doch überraschend hohen Teilnehmerzahl, gab es bei der Eröffnungsfeier noch eine zweite, nicht weniger angenehme Überraschung: Kabinettchef Dumont, der den Minister für französische Kultur, de Stexhe, vertrat, gab der Versammlung bekannt, dass die Volkshochschule mit einer weitgehenden Unterstützung durch die öffentlichen Instanzen rechnen könne...»

In der Tat war auch der finanzielle Aspekt der Initiative eine Herausforderung. Zwar hatte man gewisse Zusagen der beiden Bewegungen, und somit ein erstes finanzielles Rückgrat, doch wäre es unmöglich gewesen, den beiden Organisationen, der CAB und dem BB, die finanzielle Last alleine aufzubürden.

Immerhin, der erste VHS-Zyklus wurde gestartet, inhaltlich und organisatorisch nach dem Muster der ISCO in der Wallonie und in Brüssel. Ziel war «die systematische Ausbildung von Erwachsenen in Volkswirtschaft, Soziologie und Politik. Interessierten und engagierten Bürgern sollte hier die Möglichkeit gegeben werden, das nötige Wissen zu erlangen, um die heutige gesellschaftliche Situation besser verstehen zu können; vor allem aber, um zu verantwortungsbewussten und einsatzfähigen Mitbürgern für eine gerechtere Gesellschaft zu werden.»


DER DURCHBRUCH
Der erste Zyklus funktionierte hervorragend. Die Studenten begnügten sich nicht damit, den Kursen zu folgen, sie entwickelten eine Reihe von Initiativen, wovon eine - die Teilnahme an einem Seminar in Nizza über das Thema «Europäische Integration und internationale Zusammenarbeit» - auch zu internationalen Kontakten führte, die bis zum heutigen Tag anhalten.
Die Verantwortlichen bewerteten das Experiment positiv und beschlossen schon nach zwei Jahren, statt wie vorgesehen nach vier, einen neuen Zyklus zu eröf
fnen; dies übrigens, obwohl die finanzielle Situation der VHS von Anfang an defizitär war (wie übrigens auch heute, in einer Zeit der sogenannten «Kulturautonomie») und die Trägerorganisationen finanziell erheblich eingreifen müssen.

FINANZEN UND PROJEKTE
Aber die ersten Schwierigkeiten machten sich bald bemerkbar. Da war zum einen die Tatsache, dass es immer schwieriger wurde, vom «weiten Brüssel» aus, die konkrete Organisation des Lehrgangs zu planen und seine Durchführung zu begleiten und zum anderen wurde es allerdings auch immer schwieriger, innerhalb der Organisation die potentiellen Teilnehmer auszumachen. Viel zu früh war inzwischen Max Bastin einer heimtückischen Krankheit erlegen und hatte Emil Creutz in Brüssel die Nachfolge angetreten. Die nötige Umrahmung der Kurse in Ostbelgien, die regelmäßigen Übersetzungen, die eigenen Finanzanträge, die gesamte politisch-kulturelle Entwicklung im Gebiet deutscher Sprache, das alles war immer schwerer in den Griff zu bekommen ...

Den dritten und vierten Studienzyklus beendeten zwar noch jeweils sieben bzw. elf Studenten, ihre Endarbeiten kamen allerdings erst dank eines speziell dazu eingerichteten «Endarbeitenseminars», nach Abschluss der normalen Studienzeit, zustande.

So kam es schließlich, dass man auf Ebene der CAB beschloss, mit Peter Schlembach einen Verantwortlichen zu berufen, der den Auftrag hatte, speziell die Volkshochschule der Ostkantone zu betreuen.

Am 3. Juli 1976 konnte die VHS in der Jugendherberge von Bévercé ihr zehnjähriges Bestehen feiern, im Beisein von Jean-Louis Lunen, Kabinettschef von F. van Ael, Minister für die französische Kultur, sowie zahlreichen Freunden und hiesigen Verantwortlichen.

Die darauffolgenden fünf Jahre sind durch eine sehr intensive Aktivität gekennzeichnet. Schon 1974 hatten die Trägerorganisationen ihre Eröffnungen dezentralisiert. Nunmehr wurde im Zweijahresrhytmus sowohl in St. Vith als auch in Eupen gleichzeitig ein Zyklus gestartet. Im dritten und vierten Jahr wurden diese beiden Gruppen dann in Bütgenbach zu einer verschmolzen. Eine Maßnahme, die von Erfolg gekrönt war. Parallel dazu öffnete sich die VHS einem größeren Teilnehmerkreis, der nicht nur mehr Personen aus dem näheren Umfeld der Trägerorganisationen umfasste.

In der VHS entwickeln sich immer mehr Aktivitäten: zahlreiche Seminare zur politischen Bildung werden angeboten, die ersten Veröffentlichungen der Volkshochschule erscheinen (Endarbeiten, die Arbeitshefte des CRISP, usw.), der ZAUNGAST, über den wir an anderer Stelle berichten, wird ins Leben gerufen und die ersten flankierenden Projekte werden initiiert, mit dem Ziel, ehemaligen Studenten und Studentinnen, die nicht in den Trägerorganisationen engagiert sind bzw. zu klassischeren Formen des Engagements keinen Zugang haben, Möglichkeiten zu bieten, soziale oder kulturelle Verantwortung zu übernehmen. Zeichen dieser regen Tätigkeit: der Finanzhaushalt der VHS, der sich 198O auf fast drei Millionen belief. Gemessen an den 236.000 Franken im ersten Tätigkeitsjahr ein enormer Anstieg.
Leider wird der mit
großem Aufwand gefeierte fünfzehnjährige Geburtstag der VHS durch die Tatsache getrübt, dass mit Heinrich Cremer, seit Beginn Verwaltungsratspräsident, und mit Charles Richter, CAB-Sekretär, zwei Pioniere der Institution ausscheiden. Sie treten in den verdienten Ruhestand. In ihre Fußstapfen treten, als Präsident des Verwaltungsrates, Josef Brandt vom Bauernbund, und Werner Zimmermann, CAB-Sekretär. Beide im übrigen ehemalige VHS'ler, was Peter Schlembach veranlasst, der Bilanz seiner Tätigkeit anlässlich des fünfzehnjährigen Bestehens am 5. Juli 1981 folgendes hinzuzufügen: «Ich freue mich, liebe Freunde, auf die nächsten Projekte, die wir gemeinsam in der kommenden Zeit angehen können.»

ANDERE ZEITEN
Eine Zeit, in der sich die VHS, vor allem unter dem Druck der rasend um sich greifenden Wirtschaftskrise, tatsächlich stark entwickelte.
Von dieser Entwicklung zeugt der
Tätigkeitsbericht des Jahres 1985:
neben einer Abteilung «Volks- und
Erwachsenenbildung», tauchen die
Aktivitätssparten «Berufliche Weiterbi
ldung» und «Schulpflichverlängerung» auf, einmal abgesehen von den bereits erwähnten «Veröffentlichungen» und «Projekten».

Dabei ist es schon erstaunlich festzus
tellen, dass es in einer Zeit, in der sich die meisten Bildungseinrichtungen mit ihrem Angebot für Allgemeinbildung oder politische Bildung recht schwer tun, der VHS gelingt, weiterhin echte Volksbildung zu betreiben.
Im Jahre 1978 finden die ersten Arbeitssuchenden zur VHS und seither ist ihr Anteil auf mehr als ein Drittel der Teilnehmerzahl pro Zyklus gestiegen. Der rege Zuspruch ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass in diesem Jahr mit den sogenannten Wochentagskursen erstmals ein neues Publikum, vor allem Hausfrauen, erreicht werden konnte. Ganz sicher spielt aber auch das «Gütezeichen» «VHS-Kurse» eine Rolle, das solide Inhalte, gepaart mit pädagogischer Substanz, verspricht. Immerhin kann die Institution auf eine zwanzigjährige Erfahrung zurückblicken.


Nun bleibt aber auch die ostbelgische Erwachsenenbildungsszene keineswegs verschont vom krisenzeitgefärbten «Was-bringt-mir-das-Reflex». Die Nachfrage pendelt sich ein auf unmittelbar und individuell Verwertbares; Kurse, deren Zielsetzung es ist, «Mitreden zu können», die «soziologische Phantasie» anstreben, ernten manchmal nur noch ein müdes Lächeln. Allerorts ist die politische Bildung auf dem Rückzug...

Allerdings, trotz ihres Erfolgs: auch die VHS geht inzwischen neue Wege, verändert sich. Sie tut dies in einer Zeit, in der sich die Weiterbildungsszene tiefgreifenden Umwälzungen stellen muss. Selbst Kenner tun sich heutzutage schwer mit der zunehmenden Vermischung von traditioneller Volks- und Erwachsenenbildung, schulischen Ausbildungsgängen und beruflicher bzw. berufsbegleitender Weiterbildung. Es gilt, hier mitzuhalten, sich den neuen Herausforderungen in Form neuer Weiterbildungsformeln, die auf nationaler und internationaler Ebene entstehen, anzunehmen: sei es nun die «alternierende Ausbildung», seien es die «lokalen Beschäftigungsinitiativen», die «Lehrwerkstätten» oder was es sonst noch in diesem Bereich gibt. Vor allem gilt es auch, diese Initiativen den Gegebenheiten, unseres Gebietes anzupassen.

Auch auf diesem Feld ist die VHS heute nicht mehr wegzudenken.

Heinrich Cremer, zwischen P. Schlembach und
E. Creutz, auf der akademischen Sitzung an-
lässlich des 15-jährigen Bestehens der VHS.


Interview mit Heinrich Cremer

Wieso war eigentlich der Bauernbund an der Gründung einer Einrichtung wie die Volkshochschule interessiert?

Ich persönlich bin sofort auf den Gedanken von Emil Creutz eingegangen, ein ostbelgisches Pendant zur ISCO zu schaffen. Ich hatte in den Jahren nach dem Krieg beim Aufbau der landwirtschaftlichen Berufsorganisationen die Feststellung gemacht, dass es in den einzelnen Ortschaften doch sehr an Führungspersönlichkeiten fehlte. Ich war auch zu der Überzeugung gelangt, dass in der Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes gewisse Qualitäten erforderlich sind. Der Erfolg, auch der wirtschaftliche Erfolg eines landwirtschaftlichen Betriebes, hängt auch vom Bildungsniveau der Landwirte ab. Da es eigentlich hier im Gebiet an Bildungswesen für junge Leute mangelte, sah ich damals eine Möglichkeit gegeben, etwas in diese Richtung zu unternehmen. In der Tat hatte sich in den ersten Jahren mancher aus dem landwirtschaftlichen Milieu dazu bewegen lassen, sich bei der VHS weiterbilden zu lassen. Wir haben im Nachhinein den Erfolg feststellen können. Später hat sich das dann geändert, weil Mitte der siebziger Jahre in Belgien eine neue Gesetzgebung über das Ausbildungswesen in der Landwirtschaft verabschiedet worden war. Es wurden günstigere Bedingungen für Ausbildungskurse in der Landwirtschaft geschaffen, so dass das Interesse für die VHS im landwirtschaftlichen Milieu etwas nachließ. In den ersten Jahren war das Interesse allerdings recht groß.

Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der VHS?

Das kann ich nicht so ohne weiteres beurteilen, weil ich während der letzten zehn Jahre die Entwicklung der VHS nicht mehr so verfolgen konnte. Ich kann mir also schwerlich ein genaues Bild machen. Tatsache ist, dass aus den ursprünglichen Zielsetzungen, für die u. a. auch ich damals eingetreten bin, im Laufe der Zeit viel mehr geworden ist. Mehr als eigentlich geplant. das will aber nicht heißen, dass man nun von der ursprünglichen Zielsetzung abgekommen ist. In der VHS werden noch immer Leute herangebildet, die in der Lage sind, sich für eine bessere Gesellschaft einzusetzen.

Steht die VHS aus der Sicht des Bauernbundes nicht zu weit «links

Ich kann das heute nicht mehr so genau beurteilen. Dieser Vorwurf ist zu Beginn in den landwirtschaftlichen Kreisen allerdings in der Tat öfters erhoben worden. Ich glaube aber nicht, dass das der Fall ist. Es hat jedenfalls der Zusammenarbeit zwischen der CAB und dem Bauernbund nie im Wege gestanden. Das wichtigste war immer, dass ein Bildungswesen bestand, das die Aufgaben und Zielsetzungen, von denen ich eben sprach, erfüllen konnte. Im Übrigen ist das Ausbildungssystem der VHS ja so eingerichtet, dass jeder ein Mitspracherecht hat. Die Zielsetzung der VHS, Leute auszubilden, die sich nachher in der Gesellschaft engagieren und dazu beitragen, sie zu verändern, hat natürlich zur Folge, dass der Anschein entstehen kann, die Einrichtung stünde zu weit links. Mich persönlich hat das nie gestört, ganz im Gegenteil. Es hat auch nie Schwierigkeiten gegeben, die einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen im Wege gestanden hätten.

Was halten Sie von Einrichtungen wie Radio Distel, Zaungast, ZAMO usw.?

Die verschiedenen Einrichtungen, die zu der Zeit entstanden sind, als ich aktiv bei der VHS war, haben sich durchaus bewährt. Damals gab es schon den Zaungast, die SOS wurde damals gegründet. Die ZAMO kann ich nicht beurteilen, die habe ich nicht gekannt. Damals gab's auch das Siebdruck-Projekt, das jungen Arbeitslosen die Möglichkeit gab, etwas Sinnvolles zu tun. Die Gruppe der Ehemaligen der VHS hatte ebenfalls eine rege Tätigkeit, die erwähnt werden sollte.

Und wie sehen Sie die Zukunft?

Ich verfolge die Entwicklung der VHS immer noch mit Interesse, auch wenn ich nicht mehr aktiv dabei bin und nicht über alles auf dem Laufenden sein kann. Auf jeden Fall wünsche ich der VHS weiterhin viel Erfolg. Sie hat bewiesen, durch ihre Aktivitäten, dass sie die Zielsetzung, die uns am Anfang vorschwebte, auf ihre Art und Weise auch tatsächlich verwirklicht.

 

 

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EXTERNE AUFTRÄGE


Koordination der „Aktionstage Politische Bildung“


Demokratieerziehung in Brüssel


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in der „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research“


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft im pädagogischen Beirat des „Jüdischen Museums der Deportation und des Widerstandes in Mechelen“


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft im Verwaltungsrat der Gedenkstätte Breendonk



 

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