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Mitternachtstraum
von Yannick Piront, 2. AUD, RSI Eupen
Was
war hier los? Anna konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher gekommen war. Verschwommene Gestalten schwirrten um sie
herum. Plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme, die ihr ins Ohr
flüsterte:
„
Anna, Schätzchen, ich werde dich immer lieben, vergiss
das nie!"
Dann ertönte ein Pfiff, ein Schrei und Anna Mayer
wachte schweißgebadet, die Decke seltsam verdreht, in ihrem Zimmer
auf. Es war nur ein Traum!
Noch atmete sie schwer, sie sah auf ihre Uhr. Es war erst ein Uhr nachts!
Es war ein Traum, den sie schon öfters geträumt hatte, doch dieses
Mal war er so real gewesen, dass sie die Angst
und die Verzweiflung wirklich gespürt hatte!
Wem gehörte die wohl bekannte Stimme? Anna stand auf, sie eilte aus ihrem Zimmer
durch den Flur zum Zimmer ihres Vaters. „Paps?"
Sie schüttelte
ihn wach. „Wasnlos?"
fragte er noch halb im Schlaf. „Ich
hatte wieder diesen Traum, aber dieses Mal war alles so wirklich. "Was hat das zu bedeuten?"
„Dass
du eine lebhafte Fantasie!" „Nein!
Ich weiß
nicht, aber es war so echt! Fast schon ein Deja - vu!"
„Anna",
ihr Vater gähnte
einmal herzhaft und schaute sie vorwurfsvoll an, „es
war nur ein Traum und du musst morgen früh raus. Geh dich wieder hinlegen!" „Na
gut, gute Nacht!" Anna verließ das Zimmer ihres Vaters und ging schlafen.
Während sie langsam
versuchte, wieder einzuschlafen, dachte ihr Vater noch lange nach. „Es kommt wieder hoch,
bald wird sie sicher Fragen stellen." Er wusste, dass diese Träume keine einfachen Vorstellungen waren, sondern die Wirklichkeit.
Denn Annas Vater war nicht der, für den Anna ihn hielt. Sie würde es bald am eigenen
Leibe erfahren. Leider.,..
Am nächsten Morgen wachte Anna schon früh auf, sie hatte danach
nicht mehr gut geschlafen. Als sie gerade ihre Cornflakes in die Schüssel streute, kam sie wieder auf ihren Traum zurück. „Paps, mich lässt dieser Traum einfach nicht los. Er war so...real...so,
als ob ich das wirklich schon einmal erlebt hätte." Darauf schwieg ihr Vater nur und
schaute verdrossen auf sein Brot. „Es ist langsam an der Zeit, dir ein Geheimnis
zu eröffnen.
Von dem Abend, an dem ich dich bekommen
habe." - „
Du meinst von dem Abend, an dem ich geboren wurde?" - „Nein, ich muss dir erzählen, was am 19. April 1943 passierte."
„Was?"
- Na ja, du weißt
doch, dass ich dir noch nie etwas von deiner Mutter erzählt habe." - Ja,... und was ist mit ihr,
ich dachte, dass sie uns verlassen hat." - „ Das ist nicht so
richtig,...ich...ich...ich bin nicht dein richtiger ....Vater!" Er sagte das mit
Nachdruck, dass Anna es ihm sofort glaubte.
Anna stiegen schon Tränen
in die Augen, das durfte doch nicht sein, bitte! Ihr Vater war oft zu Scherzen
aufgelegt. Doch konnte Anna an seinen Augen sehen, dass er dieses Mal
keinesfalls Witze machte. Er meinte es ernst. Todernst!
„Und
wo ist meine Mutter? Lebt sie noch? Warum hat sie mich abgegeben?
Wie ...." - „Ruhig,
ruhig, ruhig, Anna!“ versuchte Annas „Vater" sie zu beruhigen. „Eine Frage nach der
anderen. Ich weiß
weder wo deine Mutter lebt noch ob sie lebt. Aber ich weiß, dass sie dich abgegeben
hat, um dich zu retten. Denk ja nicht, sie würde dich nicht lieben!" Anna
weinte nun leise. „Und,
was ist denn passiert?" „Nun,
es passierte im Zweiten Weltkrieg. Es war eine kalte Nacht. Ich hatte
gerade Wachdienst. Ich saß
in dem Zug in Richtung Auschwitz, ich war einer der Nazis ...
nicht wirklich natürlich",
fügte
er hastig hinzu, als er Annas entsetztes Gesicht sah.
„Weißt du, ich wollte den
Menschen helfen, anstatt sie zu töten. Ich hatte mich also eingeschleust. Da
quietschte es, und der Zug hielt an. Ich war überrascht, denn es konnte nicht anders sein,
als dass jemand von außen
ihn anhielt. Als der Zug dann endlich ganz zum Stehen kam,
da stiegen wir aus, um nachzusehen, ob die Gefangenen noch in ihren
Waggons waren! Aber viele konnten fliehen. Wir sahen, dass sie
wegliefen und wir mussten sie verfolgen. Ich lief einer Frau
nach, die sich auf den Wald zubewegte, wo sie dann schließlich zusammenbrach. Erst
da sah ich, dass sie ein kleines Mädchen in ihren Armen
hielt. Und das warst du! Ich bückte
mich, um euch zu helfen, doch dann sah ich von weitem
andere Nazis kommen.
Plötzlich packte deine Mutter mich am Arm und
sagte mir, ich soll auf mein Herz hören und dich retten. Zu dir sagte sie noch,
sie würde
dich immer lieben.
Anna fühlte sich so schwach, so traurig. Das erklärte natürlich den Traum, doch
damit hätte
sie nie gerechnet. „
Dann ertönte
ein Schuss und ich versteckte mich mit dir hinter einem Gebüsch. „Was dann mit deiner Mutter
geschah, weiß
ich nicht, doch ich nahm dich bei mir auf, als wärest du mein Kind."
Anna war sprachlos. Das war zu viel für sie. Sie konnte nicht
klar denken. Ihr ging nur ein Gedanke immer wieder durch
den Kopf: „Ich
muss sie finden. Ich muss wissen, ob meine Mutter noch lebt." Anna wurde übel und
sie musste sich fast übergeben.
Dieser Mann, den sie all die Jahre für ihren Vater gehalten
hatte, stellte sich als ein anderer heraus. Es widerte sie
auch ein bisschen an, dass er all die Jahre angelogen hatte.
„Ich
muss sie finden", offenbarte sie ihrem „Vater" ihre Gedanken. „Anna, ich weiß, dass muss dich alles
schockieren, aber findest du nicht..."- „Nein!" fiel Anna ihm
ins Wort, „ich
werde sie finden. Ob du mir hilfst oder nicht, ist deine Entscheidung. Ich muss sie finden!" Ihr Vater sagte
nichts mehr. „Das,
was ich weiß,
ist, dass deine Mutter aus einer Stadt namens Mechelen kam. Sie war Jüdin." - „Warte" sagte Anna, „ich hole
die Karte von Belgien!"
Zwei Stunden später saßen Anna und ihr Adoptivvater im Auto in
Fahrtrichtung Belgien. Sie hatten die letzten Kilometer nicht mehr mit einander
geredet. „Wie
sah sie aus?", fragte Anna dann, um ihrem Schweigen ein Ende zu bereiten. „Lass mich überlegen! Sie hatte
langes, schwarzes Haar, so wie du. An die Augenfarbe kann ich mich
nicht mehr so genau erinnern, aber ich meine, sie hatte
blaue Augen so wie du. Und sie war sehr schlank." Anna
konnte sich gar nicht an ihre Mutter erinnern. In ihren frühesten Gedanken
war schon ihr Vater gewesen. Sie wusste auch gar nicht, wo sie die
Suche nach ihrer Mutter anfangen sollten. Wenn die Stadt, in der sie einmal
gelebt hatte, groß
war, würde
die Suche sicher unmöglich
werden. Sie teilte ihrem Adoptivvater ihre Gedanken mit, worauf
dieser reagierte: „Wir
fragen in Geschäften
und beim Pfarrer nach. Aber wir haben keine Anhaltspunkte, denn wir kennen
weder ihren Namen noch ihre Adresse. Ich weiß ja nicht mal, ob dein
richtiger Name Anna ist." Stimmt, daran hatte Anna gar
nicht gedacht. Vielleicht hieß
sie ja gar nicht Anna, sondern Kachel, Sara oder Ruth,...?
Nach zwei Stunden später sah Anna ein Schild, auf dem „Mechelen" stand.
Anna wurde immer aufgeregter. „Ob
sie mich erkennt?", fragte sie sich. Und dann waren sie mitten in der
Stadt. Sie stiegen aus und gingen in die erste Bäckerei hinein. „Was möchtest du?", fragte
sie ihr „Vater".
„Ich
möchte
ein Käsebrötchen bitte, aber ohne
Butter", entgegnete sie. Der Vater bestellte und sie setzten
sich draußen
auf eine Bank. Die Verkäuferin brachte ihnen die bestellten Getränke und sagte dann: „Komisch, du siehst
jemandem ähnlich,
den ich einmal gekannt habe." Im ersten Moment dachte Anna
darüber
gar nicht nach, doch dann machte es Klick! „Hey, warten Sie! rief sie
der Frau hinterher. „Wem?",
fragte die Verkäuferin
verwundert. „Na,
wem ich ähnlich
sehe!" hakte Anna nach. „Ach
so, einer Frau, die ich mal gekannt habe. Marie, glaube ich. Ja, Marie
Salme hieß
sie" erklärte
die Frau. „Wissen
Sie, wo sie wohnte?", fragte Anna. „Ehm, in der Schulstraße 25, glaube
ich." Ohne sich zu bedanken, lief Anna zu ihrem Adoptivvater. Für Höflichkeit hatte sie gerade
keine Zeit. „Schulstraße 25!" sagte Anna
nur, außer
Atem von dem Hin- und Herlaufen.
Zwanzig Minuten später standen sie vor dem
Haus in der Schulstraße.
„Hier
ist es!", dachte Anna. „Ob meine Mutter wohl hier
ist?" Sie klingelte. Eine alte Frau öffnete die Tür. Sie guckte Anna im
ersten Moment verwundert an. „Ja?", fragte sie unsicher. - „Ich ... wir suchen eine
Frau, die hier einmal gewohnt hat. Marie Salme hieß sie!" Die alte Frau überlegte kurz, dann sagte
sie: „Oh...ja,
ich erinnere mich. Du findest sie in der Baumstraße". - „Danke!" bedankte sich
Anna kurz, dann lief sie auch schon wieder weiter, um die Baumstraße zu suchen.
„Für eine gute Freundin, die
immer in unserem Herzen bleiben wird!" stand auf dem Grabstein,
vor dem Anna stand. Von weitem hatte Anna gesehen, dass die Baumstraße nichts weiter als ein
großer,
langer Friedhof war. Fünf Minuten später hatte sie das Grab ihrer Mutter dann
gefunden.
Tränen
liefen ihr über
die Wangen. Ihr Adoptivvater legte den Arm um sie. „Es tut mir leid",
sagte er nur niedergeschlagen. „Komm,
es wird Zeit nach Hause zurückzukehren!" Er fasste Anna bei
der Hand, aber sie wollte noch etwas bleiben. Und so blieb sie
vor dem Grab ihrer Mutter und betete zum ersten Mal in ihrem Leben.
Anna fuhr mit ihrem Vater zurück und lebte noch fünf Jahre mit ihm zusammen.
Dann zog sie aus. Sie lernte einen Mann kennen und heiratete. Dann zogen sie in die Stadt, in der ihre Mutter gelebt hatte. Jeden
Tag kam Anna an das Grab ihrer Mutter und betete, Sie bekam drei Kinder.
Mit achtzig Jahren starb sie und wurde neben ihrer Mutter begraben.
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