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Das Butterblümchen
von Sebastian Riermeier, 2. AUD, RSI Eupen
19. April 1943
Irgendwo in
Deutschland
0.23 Uhr:
Der Deportationszug XX wird langsamer. Was ist los? Die
Nacht ist still. Nur das Rattern und Pfeifen des Zuges durchdringen die endlose
Stille. Der Zug hält ruckartig. Die Insassen des Zuges geraten gefährlich ins
Schwanken. Plötzlich hört man von draußen wild durcheinander erklingende
Schreie und Rufe. Dann, ganz plötzlich, durchdringen Schüsse die Luft. Erst
wenige, dann mehrere hintereinander.
Auf einmal wird die Tür des Waggons 3 aufgerissen. Ein
Wachmann der SS schreit in schlechtem
Englisch den Insassen etwas entgegen: „Nobody moves! If one of you in the bad
idea to flee, he is as good as dead!“
(„Niemand rührt sich! Wenn einer
von euch auf die dumme Idee kommt zu fliehen, dann ist er so gut wie tot!“)
Warum er auf English redet, ist den Insassen bewusst. Es sind nicht nur
deutschsprachige Leute im Zug. Auch französische – und anderssprachige Personen
(die meisten davon sind Juden) sind auf dem Weg nach Auschwitz. Der Wachmann will
die Schiebetür wieder zuschließen, doch im letzten Moment schiebt ein jüngerer
Mann mit haselnussbraunen Haaren ein dünnes Holzstückchen zwischen den Spalt
von Tür und Wand. Die Tür klemmt. Der Wachmann versucht die Tür zu schließen.
Ohne Erfolg. Er bemerkt, dass die Tür irgendwie blockiert wird. Er schiebt die Tür wieder auf,
bückt sich und … Der Schrei des Wachmanns geht in den Schüssen von draußen
unter. Der junge Mann, der die Tür so clever verklemmt hat, hat dem Wachmann
einen heftigen Tritt gegen seinen Kopf verpasst, was zur Folge hatte, dass der
Wachmann ohnmächtig wird. „Lauft!“ ruft der junge Mann den anderen Insassen zu.
Das lassen sie sich kein zweites Mal sagen. Die Insassen von Waggon 3 stürmen
in einem großen Chaos aus dem Zug. Das bemerken die anderen Wachmänner der SS
und versuchen, die Flüchtlinge aufzuhalten, mit Gewalt, aber auch mit dem Tod
durch Erschießen.
Auch Annelise Weber ist eine der
vielen Flüchtlinge aus Waggon 3, doch eine der wenigen, die gezögert hatte, in
die kalte Nacht zu fliehen. Denn es ist gefährlich. Doch ist sie nicht auf den
Kopf gefallen. Sie weiß, würde sie nicht hier sterben, dann sicher in
Auschwitz. Und dann kommt ihr der Gedanke, dass sie lieber mutig als traurig
dem Tod gegenüberstehen will. Also flüchtet sie auch in die kalte Nachtluft
hinaus. Sie stößt immer wieder mit anderen Flüchtlingen, und einmal sogar mit
einem Wachmann zusammen, der sie aber gar nicht bemerkt, da er viel mehr damit
beschäftigt ist, 3 junge Männer zu jagen, die Annelise nicht kennt, aber in
Wirklichkeit ihre Lebensretter sind.
Annelise läuft immer weiter. Es
ist so dunkel, dass sie ihre Hände kaum vor Augen sehen kann.
Die Nacht ist jetzt keinesfalls
mehr ruhig. Schreie von Männern, Frauen und sogar kleinen Kindern durchdringen
die Stille. Schüsse werden immer wieder abgefeuert. Man kann sogar den Aufprall
lebloser Körper hören, die getroffen auf den Boden fallen.
Annelises Augen gewöhnen sich
langsam an die Dunkelheit. Da, ein Wald! Da kann sie sich verstecken. Sie läuft
auf den Wald zu. Da sie nicht sehr trainiert ist, wird das Laufen nach einiger
Zeit schwer für ihren jungen, zierlichen Körper und sie gerät nach kurzer Zeit
schwer ins Atmen. Sie hat den Wald fast erreicht. Doch da ertönt plötzlich ein
lauter Schuss und Annelise Weber fällt zu Boden…
Ca. 19 Jahre zuvor:
Annelise Weber wurde am 22. Juni
1924 in einem städtischem Krankenhaus in Ostbelgien geboren. Der Name dieser
Stadt trägt hierbei wenig von Bedeutung, da man den Namen sicher eh noch nie
gehört hat. Sie wuchs als erstes und einziges Kind in einer gut situierten
(wenn nicht sogar reichen) jüdischen Familie auf. Ihr Vater, Jean – Luc Weber,
war ein bekannter Bauingenieur. Er hatte an vielen bekannten und teuren
Bauprojekten selbst mit Hand angelegt und manche davon sogar selbst entworfen. 1910
war er dann aus Frankreich nach Belgien gereist und hatte sich dort unsterblich
in die hübsche und stolze Frau Elisabeth Helmschrodt verliebt. Nach 2 jähriger,
glücklicher Beziehung beschlossen sie zu heiraten, was sie dann auch taten, und
bekamen wie gesagt am 22. Juni 1924 ihr erstes Kind, Annelise (nach Jean – Lucs
Ururur - Großmutter) Elisabeth (nach Annelises Mutter und Urur - Oma) Hannelore
(nach dem zweiten Namen der Oma Carolyn mütterlicherseits) Weber.
Kurz: Annelise Elisabeth Hannelore Weber.
Annelises Mutter arbeitete in ihren
jungen Jahren als Kosmetikberaterin und
Verkäuferin in der Albertostraße. Dort hatte sie ihr eigenes Geschäft, was
ziemlich gut lief. Sie hatte sogar einige Stammkunden, die fast täglich in das Geschäft (“Ellis
Kosmetik- und Gesichtspflegeladen) von Frau Weber kamen, um sich über die neuesten
Düfte und Kosmetikprodukte zu informieren. Doch nun etwas mehr zu Annelises
Wesen:
Mit 6 Jahren wurde Annelise in die
Adolf – Grohnmeier Grundschule eingeschult. Sofort wurden die Lehrer auf
Annelise aufmerksam. Sie war ein Kind, das mit ihren strubbeligen, schwarzen
Haaren sofort in einer großen Menge auffiel (heute würde man sagen, sie hätte
ein bisschen die Haare wie Michael Endes Romanfigur Momo). Auch ihr Verhalten war in gewisser Weise “auffallend“. Sie
war ein sehr ruhiges, introvertiertes Mädchen, das trotzdem regelmäßig und
ordentlich ihre Schulaufgaben machte und immer gute Noten erzielte. Die
Zeugnisse in den ersten 4 Schuljahren waren meist die besten des Jahrganges.
Natürlich waren die Zeugnisse auch ab dem 5. Schuljahr gut, doch da war sie
nicht mehr die Beste. Ihre Interessen und Begeisterungen an Allem machten sie sehr
schnell beliebt, und schon im Alter von 7 Jahren hatte sie mehr Freunde als so
mancher weiterführender Schüler. Die Grundschule absolvierte sie mit
erstklassigen Noten. Nur in Mathe war sie etwas schwach, aber so war es schon
immer im weiblichen Geschlecht der Familie Weber / Helmschrodt gewesen.
Im Alter von 12 Jahren kam sie dann
auf die Heinrich – Hübner weiterführende Schule. Alle ihre Freunde waren mit ihr dorthin gekommen. Ihr
Freundeskreis machte ihr im Großen und Ganzen wenig Probleme. Im Kindesalter
wird noch nicht auf die Hautfarbe, die Nationalität oder die Religion geschaut.
Kinder sind Kinder, spielen zusammen ohne Vorurteile gegenüber andere zu haben.
Bis zu ihrem 14. Lebensjahr hielt das auch an. Mit Annelises Alter änderte ihr
Äußeres sich auch. Sie war etwas schlanker geworden, hatte nicht mehr so
strubbeliges Haar wie damals als Kind, sondern hatte es jetzt immer ordentlich nach
hinten gekämmt (das lag vielleicht auch daran, dass ihre Mutter den Anblick
dieses “Urwaldes“ auf ihrem Kopf, so wie sie die Frisur ihrer Tochter immer
nannte, nicht mehr ertragen konnte!). Ab
ihrem 15. Lebensjahr merkte Annelise jedoch, dass die Welt, die sie immer für
wunderschön und unzerbrechlich gehalten hatte, doch gar nicht so utopisch war
wie sie immer gedacht hatte. Denn eine Macht schlich sich langsam, aber
unaufhaltsam an. Eine Macht, die so viele sahen, aber sie doch nicht wahrhaben
wollten. Eine Macht, die noch vielen das Leben kosten würde.
Mit 15 Jahren wurde Annelise sich
auch zum ersten Mal ihrer Religion bewusst. Sie war oft bei ihren Freundinnen
zum Spielen gewesen und hatte bemerkt, dass die Sitten und Regeln bei denen
ganz anders waren. Am Anfang hatte sie das gar nicht gestört, doch jetzt
schämte sie sich manchmal ein bisschen dafür, wenn sie mit einer Freundin
(meistens war es Sophie Gaarder, ihre
beste Freundin) nach Hause kam, und ihre Eltern Lieder auf jüdischer Sprache aus
der Bibel oder dem Kirchengesangsbuch laut im Wohnzimmer sangen.
Doch das schien weder Sophie noch
andere von Annelises Freundinnen zu stören. Eigentlich störte es nur Annelise.
Aber wie schon gesagt, sie war ein sehr schüchternes und zurückhaltendes Kind
und hätte es sich deshalb auch nie gewagt, schlecht über ihre Eltern zu reden
oder sich mit ihnen darüber zu unterhalten. Mit 18 Jahren beendete sie die Schule schließlich.
Das Abi hatte sie mit Auszeichnung
geschafft und wollte nun studieren gehen, was damals nur in reichen und
wohlgesitteten Familien möglich war. Doch
Annelise hatte sich fest vorgenommen, ihren Traum zu verwirklichen. Den Traum,
irgendwann einmal eine berühmte Nachrichten - oder Zeitschriftenjournalistin zu
werden. Ach Annelise, wäre das Leben nur so einfach! Aber das war es nicht. Und
dass würde Annelise Weber auch bald zu spüren bekommen…Arme Annelise!
24. Juli 1942
„Blöde Deutschen!“ denkt sich
Annelise Weber und schaltet das Radio in ihrem Zimmer aus. Der Krieg ist voll
im Gange. Die Deutschen haben fast ganz
Europa besetzt, darunter natürlich auch Belgien. Annelise ist seit einigen
Jahren über die Situation auf ihrem Planeten aufgeklärt und versteht trotzdem
nicht alles. „Was will dieses blöde Hitler Schwein damit wohl erreichen!“
Augenblicke nach ihrem Gedanken schlägt sie sich die Hände vor den Mund. Zum
Glück hat sie ihre Gedanken nicht laut ausgesprochen. In ihrer Familie werden
solche Wörter wie „blödes Schwein“ nicht geduldet. „Aber es stimmt doch!“ denkt
sie sich kurze Zeit später. Was ist bloß los mit ihr? Was ist aus der ruhigen
Annelise Weber geworden? Aber in solch einer Situation hat sie allen Grund
sauer zu sein. Die gemeinen (ich besänftige die Schimpfwörter in Annelises
Gedanken etwas ab, nicht dass Sie den Text wegen seiner groben Ausdrucksweise
gleich im Ofen verbrennen oder ihn im
Katzenklo auslegen!) Deutschen denken, sie könnten alles machen, was sie wollen. Töten zahlreicher Menschen,
darunter auch Kinder, und körperlich bis geistig behinderter Menschen.
Annelise
geht zu ihrem Nachtkommödchen, öffnet die Schublade mit einem Schlüssel (den
nur sie besitzt) und holt ein weißes, mit aufgemalten Blumen verziertes
Kästchen hervor. Sie öffnet dieses ebenfalls und holt etwas heraus. Eine Art
Broschüre. Es ist ein Flyer der Nazis. Auf ihm steht in großer, eindrucksvoller
Schrift geschrieben: „Deutsche, reine Arier! Wir sind die Besten!“. Darunter,
in einer etwas kleineren Schrift steht: „Wir versprechen Ihnen ein Leben, frei
von Ungeziefer und Dreck! Nur noch hochwertige Menschen werden sie kennen
lernen! Halten Sie zu uns! Wir sind es unserem Planeten schuldig!“ Darunter ein
schwarz – weißes Bild von einer Familie (bestehend aus Vater, Mutter und zwei Kindern,
jeweils ein Junge und ein Mädchen, mit einem großem Hund) die dem Betrachter
des Flyers glücklich zuwinken.
In diesem Falle weiß Annelise
natürlich was mit „Ungeziefer“ und „Dreck“ gemeint ist.
Juden, Sinti und Roma, Verräter,
Schwarze, Homosexuelle, anders politisch Orientierte, Behinderte, …! Oder wie
die Nazis sagen: „Abschaum!“ Annelise stopft den Flyer wütend in ihre weiße
Dose zurück. „Warum hab ich den überhaupt von der Straße aufgehoben?“ fragt sie
sich, „Er macht mich doch eh nur wütend und traurig.“ Sie steckt die Dose
zurück in die Schublade (in der auch ihr Tagebuch, in dem all ihre unerfüllten Träume
und Geheimnisse drinstehen, liegt), schließt diese ab und versteckt den
Schlüssel an einem geheimen Ort in ihrem Zimmer, den nur sie kennt. Sie ist
gerade dabei ihr Zimmer zu verlassen, als sie an dem großen Schrankspiegel in
ihrem Zimmer stehen bleibt. Sie betrachtet sich einige Zeit und denkt nach.
Annelise ist für ihr Alter etwas klein, hat schwarze, lockige Haare, die sie
aber meist ordentlich nach hinten gekämmt hat, zwei nussbraunfarbigen Augen, ein wenig spitze Ohren und ein etwas
fülliges Gesicht, einen schmalen Mund und eine pickelfreie Stirn. Eigentlich
ist sie mit ihrem Aussehen zu frieden. „Nur die Nase“, denkt sie sich, „nur die
Nase könnte etwas schmaler sein.“ Sie wendet sich vom Spiegel ab und verlässt
ihr Zimmer.
Das Haus der Webers ist recht
groß. Man könnte es fast sogar schon als eine Art Villa bezeichnen. Das Haus
ist aus roten Ziegelsteinen gebaut, hat ein schwarzes Dach und viele Fenster
(mindestens 3 für jeden Raum, und es gibt ca. 17 Räume im Haus!). Hinter dem
Haus erstreckt sich ein langer Garten, der bis zu einem kleinen Wäldchen endet,
wo Annelise als kleines Mädchen mit ihren Freundinnen immer gerne Verstecken gespielt
hat.
Annelise betritt das Wohnzimmer.
Ihre Mutter sitzt, wie so oft in dem alten, schon von vielen Generationen zu
Generationen vererbten roten,
bepolsterten Ledersessel. Sie hält eine Tasse Tee in der Hand und schlürft
diesen genüsslich , während sie ruhige Mozart Musik genießt und an ihr
bekannten Stellen mitsummt – oder flötet. „Morgen Mutter“ begrüßt Annelise ihre
Mutter und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Morgen Annelise!“ begrüßt die
Mutter sie fröhlich zurück. Um Frau Weber etwas besser kennen zu lernen,
beschreibe ich sie erst einmal etwas mehr: Sie ist wie ihre Tochter eine
ziemlich schmale Frau, doch das Gesicht hat sie ihrer Tochter nicht vererbt
(„Was ein Glück!“ denkt sich Annelise manchmal heimlich im Stillen.) Das
Gesicht könnte man mit einem Adler vergleichen. Frau Weber hat eine spitze,
lange Nase, einen langen Hals und kurze, dunkelbraune Haare. Ihre Augen sind
spitz, und mit den vielen Stress – und Altersfalten in ihrem Gesicht verleiht
es ihr an einer Art Strenge. Streng ist Frau Weber normaler Weise nicht, aber
wenn es drauf ankommt, kann sie sehr wütend und cholerisch werden. Sie trägt
jeden Tag ihre besten Kleider, welche Annelise nur zum heiligen Sonntag tragen
würde. Darüber beschwert sich Frau Weber auch häufig. Natürlich ist Annelise
schon längst aufgefallen, dass ihre Mutter sich gerne und auch häufig
beschwert. Frau Weber ist eine sehr stolze Frau und achtet auch sehr auf ihr
soziales Umfeld. Würde Annelise zum Beispiel mit einer Freundin aus der
“Unterschicht“ nach Hause kommen, dann würde Frau Weber Annelises Bekanntschaft
aufs Gröbste klarmachen, dass sie in diesem Hause nicht erwünscht sei. Solch
eine ähnliche Situation war schon ein Mal vorgekommen, was zur Folge hatte,
dass Annelise und ihre Mutter in einem großen Streit getrennt schlafen gegangen
waren, ohne Gute – Nacht - Kuss sei gesagt. Einige Tage später hatten sie sich
aber wieder vertragen, doch trotzdem vertrat Frau Weber weiterhin ihre Meinung und so durfte Annelise sich nicht
mehr mit ihrer “unterschichtlichen“ Freundin treffen. Hart, aber, wie Frau
Weber gerne sagte, „Was würden die Nachbarn von uns denken?“
Ein wenig später…:
Annelise und ihre Mutter sitzen am
großen Esstisch im Speisesaal und
löffeln Spargelsuppe. „Du hast
mal wieder ausgezeichnet gekocht, Isabelle.“ lobt Frau Weber die Köchin, Frau
Michajlov. „Dankeschön, Miss!“ bedankt sich Frau Michajlov mit ihrem russischen Akzent. Isabelle
Michajlov ist vor einigen Jahren nach Belgien gezogen, da die Wirtschaft und
die Situation in Russland schlimmer und katastrophaler waren als in Belgien.
Sie musste ihr Leben ganz von vorne beginnen und suchte einen Job, den sie schließlich bei den Webers
fand. Sie war aber nicht nur Köchin, sondern auch Haus -, Putz - und Gartenfrau im Hause Weber. Sie hatte immer
gute Arbeit geleistet und lebte deshalb mit den Webers unter einem Dach.
Annelise wendet sich von ihrer
warmen Suppe ab und fragt ihre Mutter: „Wann wird Papa wieder nach Hause
kommen?“ „Annelise“, sagt Frau Weber in ihrem strengen Ton, „du bist 18 Jahre
alt. Du kannst deinen Vater ruhig Herr Vater nennen!“ Annelise verdreht innerlich
ihre Augen, und fragt erneut: „Wann wird denn der Herr Vater nach Hause kommen?“ Dabei legt sie besonders viel
Betonung auf das Wort „Herr“. „Gut so, geht doch!“ lobt Frau Weber ihre Tochter
und sagt dann: „Er wird in 2 Wochen eintreffen. Und jetzt iss bitte deine
Suppe, sonst wird sie kalt.“ So essen sie still schweigend weiter. Das war
meistens so. „Wenn Papa jetzt da wäre, “ denkt Annelise für sich, „dann würde er spannende
Geschichten aus dem Ausland erzählen. Wo ist er jetzt noch mal? Ach ja, in der
Ukraine.“ Annelise hatte schon immer Angst um ihren Vater gehabt. Besonders
jetzt, da in der Ukraine ja gerade Krieg herrscht … wie überall.
Am selben Abend…:
Frau Weber sitzt mal wieder in
ihrem alten, roten Sessel und ist gerade dabei einzuschlafen. Doch schreckt sie
augenblicklich auf, als das Telefon anfängt zu klingeln: „Driiing…Driiing!“
„Frau Michajlov, würden sie bitte
ans Telefon gehen!“ fordert Frau Weber ihre Haushälterin höflich auf. „Ja,
Madame!“ sagt Frau Michajlov. Das laute
Läuten des Telefons verstummt. Nach
einigen Sekunden kommt Frau Michajlov ins Wohnzimmer zurück. „Für Sie, Madame!“
gibt Frau Michajlov Frau Weber zu verstehen, dass der Anruf für sie sei.
„Eigentlich möchte ich nicht gestört werden. Könnten Sie das bitte dem Anrufer
ausrichten?“ sagt Frau Weber. „Der Anrufer sagt es wäre wichtig…es würde sich
um den Hausherren drehen. „Jean – Luc?“ denkt sich Elisabeth Weber, „Was gibt
es denn? Kommt er vielleicht früher nach Hause. Oder, es wird doch nichts
passiert sein…ach quatsch, nein!“ denkt sie sich. Sie erhebt sich aus ihrem
Sessel, geht zum Telefon und legt den Hörer an ihr rechtes Ohr:
„Ja bitte?“ erkundigt sich Frau
Weber.
„Frau Weber?“ sagt eine männliche,
raue Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Ja, die bin ich!“
„Hier ist Arnold Adam. Ich bin ein
Arbeitskollege ihres Mannes. Wir haben uns mal auf einer Weihnachtsfeier kennen
gelernt. Es geht um ihren Mann.“
„Jean – Luc? Haben Sie eine
Nachricht von ihm an mich?“
„Ehm…nein..“. Doch weiter kommt er
nicht, Frau Weber unterbricht ihn.
„Ach ja stimmt, sonst hätte er ja
selbst angerufen. Was ist denn los?“
Der Mann am Ende der Leitung spürt,
dass Frau Weber nervös ist.
„Frau Weber, “ beginnt der Mann
langsam zu erklären, „es tut mir sehr Leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr
Mann…umgekommen ist…“
Tot? Frau Webers Gedanken
verschwimmen vor ihren Augen. Tot? Nein. Unmöglich. Das kann nicht sein!
„Frau Weber?“ erkundigt sich die
Stimme ruhig nach Frau Webers Wohlbefinden.
Frau Weber kann nicht klar denken.
Ohne jedes Abschiedswort legt sie den Hörer auf. Sie spürt Frau Michajlov
hinter sich. „Madame, alles in Ordnung?“ fragt Frau Michajlov ihre Hausherrin.
„Wird der Hausherr schon eher nach Hause kommen?“ Arme Frau Michajlov. Wenn sie
wüsste. Dabei hat sie doch den Herrn Weber so gemocht….
Es ist Abend. Kein Licht brennt
mehr im Hause Weber. Oder doch? Ja, da! In Annelises Zimmer brennt noch ein
kleines Licht. Nämlich das auf ihrer Nachtkommode. Annelise liegt in ihrem
Schlafanzug auf ihrem Bett und schreibt wie so oft Tagebuch:
"Liebes Tagebuch!"
14. April 1943
„Fast ein halbes Jahr ist seit Papas Tod vergangen und es hat sich
so viel verändert. Die dummen Nazis haben ihn umgebracht. Erschossen. Ach wie
ich sie hasse! Er kann doch nichts dafür. Nur weil er anders ist. Dabei ist er
nicht mal anders. Religion ist halt Religion! Hab ich schon erwähnt, wie sehr
ich die ganzen Nazis hasse! Und alles nur wegen Hitler!
Die Beerdigung von
Papa wurde groß “gefeiert“. Sagt man nicht eher “getrauert“? Ich weiß es nicht.
Auf jeden Fall waren viele Leute da. Papa war sehr berühmt, das wusste ich
schon immer. Aber dass er so viele Menschen kannte, war mir gar nicht bewusst.
Es ist ein Glück, dass wir überhaupt seine Beerdigung miterleben durften. Zu dieser Zeit ist es nicht üblich, dass wir
Juden so etwas machen dürfen. Schließlich sind wir ja, so wie es die Nazis sagen,
“nichts wert!“ Ich vermisse Papa.
Aber ich glaube, es wäre noch schlimmer, wenn er öfters da
gewesen wäre, denn dann würde ich ihn noch mehr vermissen. Es ist fast so, als wäre er wieder auf einer seiner
Geschäftsreisen … na ja, halt nur fast! Ich weiß, dass er leider dieses Mal nicht mehr zurückkommt.
Ich vermisse seine Stimme, sein Lachen, seine Nähe. Er fehlt mir so sehr!
Mutter hat sich auch sehr verändert. Sie ist nicht mehr so fröhlich wie früher.
Ganz im Gegenteil. Sie war mal eine lebenslustige Frau.
Doch jetzt ist davon nicht mehr viel zu sehen. Ich würde
sogar so weit gehen, sie “verbittert“ zu
nennen. Arme Mama! Sie sitzt nur noch
den ganzen Tag in ihrem alten Sessel und trinkt Tee. Mozart hört sie schon
lange nicht mehr. Das ist ihr anscheinend zu fröhlich gestimmt. Überhaupt redet
sie nur noch selten. So mag ich meine Mutter nicht. Denn wenn sie redet, dann
ist sie immer streng oder böse. Ich könnte sie manchmal so anschreien, was ich
mich aber nicht traue. Ach, wäre Papa nur hier. Er würde mich verstehen.“
Annelise hält inne. Hat sie nicht
gerade jemand unten gehen hören? „Ach was, “ denkt sie sich, „ist sicher nur
Frau Michajlov, die sich ein Glas Milch
aus der Küche geholt hat.“ Sie widmet sich wieder ihrem Tagebuch :
„Frau Michajlov hat Papas Tod auch ganz schön mitgenommen.
Sie hat ihn sehr gemocht. Wenn er da war, haben die beiden oft zusammen gebacken.
Sie mochte das. Mama sah das, glaube ich,
nicht gerne. Sie war sicher
eifersüchtig. Wozu sie aber keinen Grund hatte, denn Papa kümmerte sich um alle
gut, ausnahmslos! Ich vermisse Papa…Armer Papa! Arme Mama! Arme Frau Michajlov
… Arme Annelise! Na ja, ich bin müde. Ich
will mich morgen mit Sophie treffen und dafür brauch ich meinen
“Schönheitsschlaf“, wie Mama immer sagt.
Gute Nacht liebes Tagebuch, gute Nacht liebe Annelise!“
Deine “Lissy“
15. April 1943
8:59 Uhr … Tick, Tack, Tick Tack,
Tick Tack…9:00 Uhr. Der Wecker klingelt. Sechsmal um genau zu sein. Beim siebten Mal stoppt
Annelise sein Geringe durch Deaktivieren des Alarmsystems. Schlaftrunken erhebt
sie sich von ihrem Bett. Sie verlässt ihr Zimmer und geht ins Badezimmer, das
am anderen Ende des Flures liegt. Sie wäscht und kämmt sich, zieht sich um und putzt sich
die Zähne. Heute wird sich Annelise mit ihrer besten Freundin Sophie treffen.
Am Telefon hat Sophie ganz ernst geklungen und gemeint, dass sie sich mir ihr
treffen wolle. Was wohl so wichtig ist? „Sicher hat sie sich in einen hübschen
Jungen verliebt, und ich soll ihn für sie ansprechen,“ denkt sich Annelise und
lacht innerlich. Nachdem sie sich soweit fertig gemacht hat, steigt sie die
Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Sie durchquert dieses und geht in das
Esszimmer, wo ihre Mutter schon am Tisch sitzt und ihr Frühstück einnimmt.
„Morgen Mutter.“ begrüßt Annelise ihre Mutter. Keine Reaktion.
„Morgen Mutter!“ versucht es
Annelise noch einmal, doch dieses Mal etwas energischer. Ihre Mutter guckt von
ihrem Teller hoch und sagt schwermütig: „Morgen Annelise.“ Annelise setzt sich
auf den gegenüberliegenden Stuhl und nimmt sich eine Scheibe Brot. „Ich treffe
mich heute mit Sophie, wir gehen etwas durch die Stadt, das ist doch in
Ordnung, oder?“ fragt sie ihre Mutter. „Wie du willst,“ sagt diese und beißt in
ihre Brotscheibe. So geht das jetzt schon fast ein halbes Jahr lang. Annelise
fängt langsam an sich Sorgen um ihre Mutter zu machen. Aber es macht sie auch
ein bisschen wütend. Sie essen einige Minuten schweigend vor sich hin. Dann
sagt ihre Mutter plötzlich: „Das ist doch nur passiert, weil wir Juden sind. Wie
soll man denn so in der Gesellschaft
überleben?“ fragt Frau Weber Annelise, die keine Zeit zum Antworten hat, da
ihre Mutter schon wieder redet: „Das wäre alles nicht passiert, wenn wir normal wären. Ganz normal…“ Annelise
kann nicht verstehen, wie ihre Mutter so etwas sagen kann. „Aber wir sind doch
normal,“ sagt Annelise.
„SIND WIR VERDAMMT NOCH MAL
NICHT!“ schreit ihre Mutter mit Tränen in den Augen. Dann weint sie bitterlich.
„Mutter…“ probiert Annelise ihre Mutter zu trösten. Doch diese schüttelt nur
den Kopf und sagt: „Nein. Es ist besser, du gehst. Du willst deine Freundin
doch nicht warten lassen, oder?“ Mit diesen Worten verlässt Frau Weber den Esstisch
und danach das Esszimmer. Annelise sitzt noch einige Minuten fassungslos am
Tisch. Wie kann ihre Mutter so was sagen? Sie
war es doch, die sich dafür entschieden hat, Annelise ebenfalls jüdisch
großzuziehen. Sie war es doch, die
Annelise immer wieder daran erinnert hat, jeden Abend zu beten. Sie war es doch die wollte, dass sich
Annelise an die jüdischen Gesetze und Regeln hielt. Und jetzt so etwas.
Annelise begreift überhaupt nichts mehr. Was ist nur aus der einmal so stolzen
und oft zu Scherzen aufgelegten Frau Weber geworden? Wo ist die Mutter, die
Annelise gerade in diesen schweren Zeiten brauchte. Wo ist sie nur? Annelise
vermisst jetzt nicht nur ihren Vater, sondern auch ihre Mutter.
13:02 Uhr…:
Annelise erreicht den Westpark der
Stadt. Hier hatte sie sie sich für 13:00 Uhr mit Sophie verabredet. Auf der
rechten Seite von Annelises schwarzer Weste ist ein gelber Judenstern
aufgenäht. So wollen es die Nazis. Gemeine Nazis!
Sophie wartet auf einer Parkbank
schon auf Annelise. Schon von weitem kann Annelise sehen, dass etwas mit ihrer
besten Freundin nicht stimmt. Annelise setzt sich neben Sophie auf die Bank und
sagt fröhlich: „Hallo!“ Sophie erwidert den Gruß aber nicht, sondern schaut
sich nur ängstlich um, als befürchte sie, dass irgendjemand sie hier zusammen sehen
könnte. „Was ist los?“ fragt Annelise ihre beste Freundin ein wenig verwirrt.
Nun wendet sich Sophie an Annelise. Aus irgendeinem, für Annelise unbekannten
Grund, kann Sophie ihr nicht in die Augen schauen. „Ist irgendwas passiert?“
fragt Annelise nun ängstlich. So hat sie ihre beste Freundin noch nie erlebt.
Sophie war immer ein sehr fröhliches Mädchen gewesen.
Mit ihrer runden, großen Brille,
der silbernen Zahnspange und den langen blonden Haaren, die sie meist zu zwei
Zöpfen geflochten hatte, sah sie schon
etwas ulkig aus, was Annelise ihr natürlich nie gesagt hatte. Sie waren ja
beste Freundinnen und die halten ja zusammen, egal wie jemand aussieht. Jetzt
guckt Sophie ihrer Freundin direkt in die Augen. Annelise merkt sofort, dass
etwas nicht stimmt. Überhaupt nicht.
„Es ist so…“ beginnt Sophie zu
erklären, „wir…wir dürfen uns nicht mehr treffen.“ Es ist so, als hätte jemand
Annelise ein großes Messer mitten in ihr Herz gerammt. Annelise guckt ihre
Freundin fassungslos an: „Warum das denn nicht? Ziehst du weg? Oh nein, bitte
nicht.“
„Nein, ich ziehe nicht weg,“ sagt
Sophie und jetzt kann Annelise sehen, dass ihrer besten Freundin Tränen in den
Augen stehen. „Es ist so, Mutter wurde vor einer Woche von den Nazis abgeholt.
Sie wurde dabei erwischt, wie sie einem Verräter Schutz gewährt hat. Deshalb
konnten wir uns in den letzten Tagen nicht sehen. Sie wurde nach Auschwitz
gebracht, glaube ich. Vater ist besorgt und will deshalb nicht, dass ich mich
noch einmal mit einem…nun ja, mit einem…Juden treffe!“ beendet Annelise immer
noch fassungslos, jetzt aber auch traurig und zugleich wütend den Satz von
Sophie. Sophie nickt. „Es…es tut mir leid, Annelise. Du…du warst immer meine
beste Freundin. Und das wird auch immer so bleiben…aber, es ist nur so…ich will
noch nicht sterben!“ Mit diesen Worten steht Sophie auf, und geht jetzt weinend
in Richtung Ausgang des Parks. Annelise ist zum zweiten Mal an diesem Tag wie
erstarrt. Nur dieses Mal ist es schlimmer. Ihre beste Freundin, mit der sie
soviel erlebt hat. All die glücklichen, problemlosen Jahre, die sie miteinander
erlebt haben, sind die jetzt nichts mehr wert? Annelise ist entsetzt. Und so
sitzt sie- am Ende weiß sie gar nicht mehr wie lange - auf der Parkbank,
während ein Vogel eine traurige Melodie zwitschert, eine Grille leise vor sich
hin summt und draußen in der Welt tausende von Leuten umgebracht werden. Arme
Annelise…arme Annelise…!
Annelise erhebt sich von der
Parkbank. Es wird langsam Zeit, nach Hause zurückzugehen, denn sie weiß, dass
man es nicht gerne sieht, wenn Juden auf den Straßen herumlaufen, auch wenn sie
nicht nach Hause will. Sie will einfach nur allein sein. Ganz allein. Sie
durchquert den großen Park bis zum Ausgang, biegt um eine Ecke, die sie zur
nächsten Straße führt und wäre beinahe mit einem Jungen in ihrem Alter
zusammengestoßen. „Oh, Entschuldigung,“ ruft der Junge. „Nein, ich muss mich entschuldigen.“
entschuldigt sich Annelise ebenfalls. „Nein, nein, das war meine Schuld.“
erwidert der Junge. Annelise will ihm gerade widersprechen, da sagt er schon:
„Na, na, keine Widerrede.“ Annelise schaut sich ihn genauer an. Er hat wie
Annelise rabenschwarze Haare. Nur sind seine kurz und glatt. Seine Augen haben
ebenfalls eine kastanienbraune Farbe. Doch was sie an ihm am meisten bewundert,
ist sein schönes Lächeln. „Wie ein Gedicht, das eine wundervolle Welt
beschreibt, aus der man nie wieder weg will.“ (Annelise interessierte sich
schon immer für Poesie und Philosophie )
Ebenfalls bemerkt Annelise, dass der Junge einen Judenstern auf seiner rechten
Brusttasche stecken hat. Er bemerkt scheinbar ihren Blick, denn kurz darauf
sagt er: „Wir haben´s nicht leicht, oder?“ „He?“ fragt Annelise verwirrt, da
sie ihm nicht zugehört hat, sondern viel eher mit seinem Aussehen beschäftigt
war. „Wir Juden. Wir haben es nicht leicht.“ wiederholt er seinen Satz. „Ach
so, ja.“ pflichtet Annelise ihm bei. „Dir scheint trotzdem auch etwas anderes
auf dem Herzen zu liegen. Ist irgendwas passiert…natürlich nur wenn ich fragen
darf?“ Annelise richtet ihren Blick auf den Boden. Eigentlich will sie nicht
darüber reden. „Es ist…ach, ist nicht so wichtig,“ weicht sie der Frage des
hübschen Jungen aus. „Komm, du kannst es mir erzählen. Ich werde es nicht
weitersagen,“ schwört er und zeigt dabei mit seinen Fingern das Ehrenwort
Zeichen. „Na gut…es ist so. Meine beste Freundin, Sophie, darf sich nicht mehr
mit mir treffen, weil ich eine Jüdin bin und sie halt nicht und deshalb…“ „bist
du traurig,“ beendet der Junge ihren Satz. „Ja.“ bejaht Annelise.
„Wollen wir ein bisschen spazieren
gehen, dann kannst du mir alles genau erzählen?“ fragt der Junge Annelise.
„Gerne.“ Obwohl Annelise diesen Jungen erst seit wenigen Momenten kennt, ist es
für sie fast so, als würden die beiden sich schon eine Ewigkeit kennen.
Dieser Junge ist so einfühlsam, so
verständnisvoll. Und so erzählt Annelise ihm alles. Von dem Tod ihres Vaters, über
die Gemütsänderung ihrer Mutter, bis zum
Geständnis von Sophie, die sie nun sicher nie wieder sehen wird. Als Annelise
fertig mit Erzählen ist, bemerkt sie, dass sie vor ihrem Haus stehen. Ihre Füße
haben sie anscheinend automatisch hier her gebracht. „Wohnst du hier?“ fragt
der Junge sie. „Ja…jetzt hab ich dir schon so viel über mich erzählt und kenne
nicht mal deinen Namen.“ Der Junge lächelt. „Ich heiße Georg“, sagt er, „Georg
Meier.“ „Na ja, dann Georg Meier, war es schön dich kennen zu lernen.“
verabschiedet sich Annelise von Georg. „Es war mir ebenfalls ein Vergnügen.“
Dann beugt er sich auf einmal vor und flüstert ihr ins Ohr: „Komm heute um
18:00 Uhr in die Elisestraße 12, wenn du auch willst, dass diese Nazis gestoppt
werden sollen, Butterblümchen.“ Und ehe Annelise sich versieht, ist Georg, der
Junge mit dem schönen Lächeln, auch schon wieder verschwunden. Arme Annelise...
Annelise öffnet die Haustür. „Soll
ich wirklich heute Nacht zu einem Jungen gehen, den ich erst seit einer knappen
halben Stunde kenne?“ fragt sie sich zweifelnd. „Wie hat er mich genannt? –
Butterblümchen!“ Annelise kann sich ein Lächeln kaum verkneifen. Sie hatte
eigentlich nie viel mit Jungen am Hut gehabt und jetzt hatte sie einen kennen
gelernt, der mit ihr etwas gegen die Nazis unternehmen wollte. Was er wohl
vorhat? Alleine können sie sicher nichts ausrichten…oder doch? Dann kommt ihr
ein anderer Gedanke, ein trauriger. „Sophie…“ Sie kann es immer noch nicht
begreifen, dass sie ihre beste Freundin wahrscheinlich nie wieder sehen wird.
Nie wieder.
Annelise betritt das Wohnzimmer, in dem sie
ihre Mutter vorfindet, die in ihrem roten Sessel sitzt und starr gerade aus
guckt. „Mutter?“ fragt Annelise zögernd, da sie nicht weiß, ob ihre Mutter sich
vom vorigen Streit wieder erholt hat. Frau Weber schaut zu ihrer Tochter hinüber,
ihre Miene ist leer und kalt. „Wann gibt es eigentlich Essen?“ fragt Annelise,
„Da fällt mir ein, ich hab Frau Michajlov heute noch gar nicht gesehen, wo ist
sie denn?“ „Weg.“ antwortet ihre Mutter nur. „Weg?“ fragt Annelise erstaunt.
„Hab sie vor die Tür gesetzt. Die dummen Russen sind doch genau so schlecht wie
wir Juden. Am Ende zerstört sie noch völlig unseren Ruf,“ antwortet Frau Weber
und verzieht dabei keine Miene. Annelise schaut ihre Mutter fassungslos an. Annelise
merkt, dass in ihr etwas aufbrodelt. Sie kann es nicht mehr zurückhalten. „Du
und dein blöder Ruf! Der ist dir ja wichtiger als dein Leben, als ICH!“ schreit
sie ihre Mutter an, die so sehr erschrickt, dass sie aufblickt. „Als ob das etwas an unserer Lage ändern würden.
Papa ist tot und nichts kann das ändern. Aber nur weil du in deinem Mitleid
versinkst, kannst du nicht die arme Frau Michajlov einfach so vor die Tür
setzen. Das gibt dir kein Recht! Sie war immer gut zu uns und du machst einfach
so was. Du bist einfach herzlos.“ Jetzt ist es raus. Annelise atmet schwer. So
etwas ist ihr noch nie in ihrem ganzen Leben passiert. Schon wenige Sekunden
nach ihrem Wutausbruch weiß sie, dass sie zu weit gegangen ist. Sie erwartet,
sich jede Sekunde eine saftige Ohrfeige von ihrer Mutter einzufangen. Doch
diese sitzt immer noch fassungslos in ihrem Sessel. „Unter solchen Umständen
kann ich nicht mit dir unter einem Dach leben Mutter, tut mir leid.“ Und ohne
ein weiteres Wort verlässt Annelise das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, in
dem sie alle schönen Erinnerungen hat. Doch für Annelise ist dieser Ort nicht
länger ihr zu Hause. Sie weiß, sie hat heute mehr verloren, als vorher in ihrem
ganzen Leben.
Arme Annelise…arme Annelise!
17:46 Uhr…:
Annelise biegt um eine Ecke und sieht das Straßenschild, auf
dem „Elisenstraße“ steht. Sie fängt an Hausnummer 12 zu suchen. „6…8…10…12,
hier ist es.“ Hausnummer 12 ist ein unscheinbares Reihenhaus, bei dem keiner
vermuten würde, dass in diesem Haus Juden wohnen, oder dass sogar Pläne gegen
die Nazis organisiert werden könnten. Sie tritt vor die Tür und klopft dreimal.
Nachdem sie ca. 10 Sekunden gewartet hat, erklingt plötzlich eine ihr bekannte
Stimme hinter der Tür: „Wer ist da?“ „Ich bin es…Annelise!“ sagt Annelise.
Die Tür öffnet sich sofort, und
Georg steht vor ihr. „Ahh…Butterblümchen.“ begrüßt Georg Annelise fröhlich.
„Warum nennst du mich immer Butterblümchen?“ fragt Annelise und sieht, dass
sich auf Georgs Gesicht sofort ein freches Lächeln bildet. „Später,“ sagt er
nur, „komm herein, die anderen sind schon da.“ „Die Anderen, welche Anderen?“
fragt sich Annelise. Sie durchqueren einen kurzen Flur und Georg bringt sie in
ein Zimmer, wo andere Jugendliche, im Alter von ca. 16 bis 25 Jahren schon auf
sie wartend sitzen. Hinten im Raum sieht Annelise ein großes Plakat, das an der
weißen Wand hängt. Darauf ist ein großer Stadtplan geklebt, wo überall Punkte
und Striche in verschiedenen Farben draufgezeichnet sind. Georg geleitet Annelise
zu einem freien Stuhl in der Mitte. „Und jetzt?“ fragt sie schüchtern, als sie
merkt, dass die anderen sie anstarren. „Warte es ab!,“ weist Georg sie höflich
an. Und sie sieht Georg hinter her, wie er nach vorne geht, um ihnen allen
einen großen Plan zu erläutern. Einen Plan, der Annelises Leben von Grund auf
verändern wird. Einen Plan, in dem Annelise alles gewinnt und gleichzeitig
alles verlieren wird. Ein Plan, der aus der schüchternen Butterblume mit dem
Namen Annelise, eine wahre, stolze Frau macht, wie es einst Frau Weber war. Er
macht aus ihr, eine Zeugin des 2. Weltkrieges.
Annelise Elisabeth Hannelore
Weber.
18. April 1943
19:05 Uhr…:
Annelise ist aufgeregt. So etwas
hat sie in ihrem Leben noch nie gemacht. „Eigentlich ist es glatter Selbstmord,“
denkt sie sich. Doch dann blickt sie nach rechts und sieht Georg, der neben ihr
im feuchten Gras hinter einer hohen Hecke hockt. Mut erfasst sie wieder. „Wie
hübsch er ist,“ denkt sie sich. Sie war noch nie verliebt gewesen. Natürlich
hatte sie sich in ihrer alten Schule nach Jungen umgesehen, es aber nie
zugegeben, da ihre Freundinnen ihr das sicher immer wieder aufs Butterbrot
geschmiert hätten. Aber nun konnte sie es zugeben. Sie war verliebt. „Gleich
ist es soweit,“ erklärt Georg auf einmal und schaut auf seine alte Armbanduhr.
„Maria und Alfred warten dort hinten, “ er zeigt auf das rechte Ende der
Straße, „Und Laura und Jousine halten dort “ (er zeigt auf die linke Seite der
Straße), „die Stellung. Die anderen sind oben.“ Er deutet nach oben, auf die
hohen, flachen Dächer der Häuser. Ihr Plan ist riskant, er ist tödlich. „Aber
wenigstens hab ich etwas Gutes getan,“ denkt Annelise und ist trotzdem
aufgeregt. Da ertönen plötzlich Trommeln und Hupen von der rechten
Straßenseite. Es beginnt. Die Nazis veranstalten einen Marsch durch die
Straßen. Sie schlagen auf ihren
Trommeln, hupen mit ihren Autos, während auf ihren Flaggen und Jacken das
Hakenkreuzzeichen groß prangt. „Hast du die Tüte mit den Flyern?“ fragt Georg Annelise. „Ja.“ Sie zeigt ihm die
Tüte mit den Flyern. Die Flyer haben sie den ganzen gestrigen Abend alle selbst
von Hand gezeichnet. Fast über 500 Stück sind es geworden. Aber so viele sind
nötig, für das, was sie heute vorhaben. „STOPPT DIE NAZIS!“ steht in großer
Schrift auf den Papieren. „LASSEN SIE NICHT ZU, DASS DIESES UNGEZIEFER IHR LEBEN ZERSTÖRT!“ Die Trommel – und Huplaute
werden immer deutlicher. Die Nazis werden bewaffnet sein, das weiß Annelise.
„Keine Sorge“, sagt Georg plötzlich
neben ihr, „es wird alles gut…Hab ich dir schon mal gesagt, dass du wunderhübsch bist?“ Und dann gibt er
ihr einen Kuss auf den Mund. Annelise ist wie erstarrt, aber dies ist einer der
schönsten Momente in ihrem ganzen Leben. Und dann bekommt sie das Gefühl, dass
sie das hier gar nicht will. Sie möchte am liebsten für immer mit Georg
zusammen sein. Sie will ihm ihre Gedanken erläutern, als er sie plötzlich auf
die Straße mit sich zieht. „JETZT!“ schreit er. Annelise sieht, dass die Parade
der Nazis genau vor ihnen ist. Und dann passiert etwas unbeschreiblich Schönes,
aber auch Schreckliches. Hunderte von gelben
Flyern fliegen wie durch Zauberei vom Himmel. „STOPPT DIE NAZISCHWEINE!“
ertönen die Stimmen von oben, rechts und links. Die Hupen und Trommeln
erstarren augenblicklich. Annelise ist das egal. Sie schleudert Flyer durch die
Gegend und schreit dabei dreiste Sprüche über die Nazis. Aus den Fenstern der
Häuser gucken Bewohner neugierig hinaus. So etwas haben sie noch nie gesehen.
Doch Annelise achtet gar nicht mehr auf sie. Sie achtet auch nicht mehr auf die
Nazis, die auf sie zugelaufen kommen. Das ist ihr Moment. Aus der schüchternen,
zurückhaltenden Annelise ist eine wahre Frau geworden. Das ist Annelises Welt.
Glückliche Annelise…glückliche Annelise…
19. April 1943
0:12 Uhr…:
Annelise wacht auf. Oder etwa doch
nicht? Womöglich ist sie nur ohnmächtig geworden. Klar, wer wird das nicht bei
diesem Gestank? Fast 12 Stunden steht sie jetzt schon in diesem Waggon, der so
voll ist, dass man sich nicht mal setzen kann. Der Zug XX rattert unaufhaltsam
Richtung Auschwitz. Wahrscheinlich, in Richtung von Annelises sicherem Tod.
Annelise denkt über die vorigen Stunden nach, die komischerweise wie im Flug
vergangen sind:
Natürlich wurden sie verhaftet.
Allemal. Doch aus irgendeinem Grund haben Annelise und Georg dabei gelacht.
Warum? Aus Angst? „Nein, sicher nicht,“ denkt sich Annelise, „Weil wir eine
gute Sache getan haben. Ja, das haben wir. Und ich würde es jeder Zeit wieder
tun.“ Nichts ist mehr zu sehen von der zurückhaltenden Annelise, dem jüdischen
Butterblümchen, das all die Jahre von der Sonne isoliert war. Bis eine
unscheinbare liebe Biene mit dem Namen Georg, sie aus ihrem Gefängnis befreit
hat und ihr damit alle Tore geöffnet hat. Zwar nur für eine kurze Zeit, aber es
hat sich gelohnt. „Ja, das hat es sich.“
Doch macht sich Annelise natürlich
auch Sorgen. Denn sie wurden getrennt, sie, Georg und die anderen. Ob sie wohl
noch leben? Was wird mit ihnen geschehen?
Annelise schaut nach unten. Dort
hockt ein kleines, vielleicht 6 - jähriges Mädchen mit traurigem Gesicht, das
durch die vielen Tränen, die es vergossen hat, ganz schwach scheint. Ob das Mädchen seine Eltern je wieder
sehen wird? Wer weiß…?
Auf einmal beginnt der Zug
langsamer zu werden. Dann, mit einem kurzen Ruck, steht er.
„Was ist los?“ fragt sich Annelise. Schickt
Gott ihr eine zweite Chance? Annelise weiß es nicht. Lauf Annelise…Lauf!
0:27…:
Annelise sieht den Wald immer
näher auf sich zukommen. Sie hat es bald geschafft. „Frei“, denkt sie, „frei!“
Dann ertönt plötzlich ein Schuss und Annelise fällt zu Boden.
Nein, sie ist nicht tot. Oder
doch? Annelise weiß es nicht. Erschrocken durch den Schuss, rappelt sie sich
schnell wieder auf und läuft weiter. Immer weiter, gen Wald. Nur noch ein paar
Meter. Dann hat sie der Wald vollständig verschluckt. Sie hat es geschafft. Sie
ist frei.
Annelise weiß nicht, wie sie es geschafft. Doch eine Woche später
steht sie wieder vor ihrem alten Haus, in dem sie einmal gelebt hat. Nachdem sie den
Wald verlassen hat, ist sie einfach gelaufen. Immer weiter. Irgendwohin. Dann,
als sie sich sicher genug fühlte, ist sie per Anhalter gefahren, was nicht
einfach war. Denn wer war so “verrückt“ eine dreckige, stinkende Frau
mitzunehmen? Doch irgendjemand hatte es getan, und auf die Frage, wo sie denn
hin wolle, hatte sie einfach nur: „Nach Hause,“ geantwortet.
Und nun stand sie wieder vor ihrem
Haus und wusste genau, dass sie dort niemanden vorfinden würde. Einen Schlüssel
für die Haustür hatte sie nicht. Aber den brauchte sie auch gar nicht. Die Tür
war offen. Aufgebrochen. Annelise betritt das große Haus, in dem sie einmal
gelebt hat. Es ist kalt, da die Fenster aufgebrochen worden sind. Überall
liegen Papiere und kaputte Sachen herum. Der Strom ist abgestellt, die Möbel
liegen umgekippt auf dem Boden. Die Gestapo war hier, das weiß Annelise schon
längst. Sie haben ihre Mutter abgeholt, ganz klar. Annelise kann sich das
Geschehen beinah bildlich vorstellen:
Die Gestapo klopft wild gegen die
Haustür und schreit: „Aufmachen!“ Doch keiner macht auf. Dann, nach nur wenigen
Sekunden wird die Tür aufgebrochen und bewaffnete Leute stürmen hinein. Frau
Weber stört das nicht. Sie sitzt in ihrem alten, roten Sessel und trinkt ihren
heißgeliebten Vanilletee, während im Hintergrund Mozart läuft. Als die Gestapo
sie auffordert aufzustehen, macht Frau
Weber sich erst gar keine Mühe, das zu
tun.
Dann sagt sie: „Bitte seien sie etwas
vorsichtiger, wir wollen doch nicht, dass die Nachbarn anfangen schlecht über
mich zu reden.“ Dann ruft sie plötzlich laut. „Jean – Luc, schließ doch bitte
die Fenster, es ist kalt und wir wollen doch nicht, dass unser liebes
Annelischen sich erkältet. Sie ist doch erst 8 Jahre alt. Uns geht’s gut…ja,
uns geht’s gut.“ Dann wird sie, natürlich mit Gewalt, aus ihrem Sessel gezogen
und nach draußen gezerrt. Und das Letzte, was man von ihr hört, ist, wie sie ein altes Lied summt, das sie
immer ihrer kleinen Tochter vorgesungen hat. Annelise hieß sie glaube ich. Ja,
das war ihr Name…Annelise.
60 Jahre später:
Annelise Elisabeth Hannelore Weber
hatte ein schönes Leben gehabt. Natürlich, es hatte auch schwere Zeiten
gegeben, aber über die sprach sie selten. Denn ihr Leben hatte sich schnell
wieder zum Guten gewendet. Sie hatte im Alter von 25 Jahren einen jungen netten
Mann namens Alexander Diedrich kennen gelernt, den sie ein Jahr später
heiratete und zwei Kinder, die auf Joshua und Matilda getauft wurden, bekam.
Leider war Alexander im frühen Alter an Lungenkrebs gestorben und hatte
Annelise mit ihren zwei Kindern alleine zurückgelassen. Und trotzdem hatte sie
glücklich weitergelebt.
Eines Tages, Annelise war jetzt
bald 80 Jahre alt, ging sie die große Einkaufsstraße in einer kleinen Stadt
entlang, wo sie einmal gelebt hatte. Sie ging um die Ecke und wäre beinah mit
einem älteren Mann zusammen gestoßen. „Entschuldigung,“ sagte Annelise. „Oh nein, ich muss mich
entschuldigen!“ erwiderte der ältere Mann . Dann schwiegen beide.
Annelise wollte gerade etwas sagen, doch der Mann kam ihr zuvor. „Na dann,
schönen Tag noch.“ Und er ging an ihr vorbei. Das war das letzte Mal, dass sie
Georg Meier sah. Er hatte sie natürlich auch erkannt, doch war er sich trotzdem
nicht sicher gewesen, ob dass das Mädchen war, dass er in jungen Jahren einmal
geliebt hatte. „Wie eine Butterblume, “ dachte er noch, „wie eine Butterblume
hat sie ausgesehen. Hübsch, doch ist sie leicht zum Schmelzen zu bringen, weil
sie im Grunde ihres Herzens ganz weich ist und schwer verletzlich. Ja, eine
Butterblume. Das ist ein schöner Vergleich!“
Annelise Weber starb am 25. Mai 2004. Sie war Leiterin einer
Organisation, die sich „Die Butterblumen“ nannten und gegen Neo-Nazis agierten. Sie war
Mutter zweier Kinder, die ihre Organisation weiterleiteten. Auf ihrem Grabstein steht geschrieben: „Du
bist wie eine Butterblume. Du wirst immer neu wachsen und nie in Vergessenheit geraten!“
ENDE
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