Grenzgeschichte DG - Autonome Hochschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft

 

 

1949: Bildchen wird Hauptort von Bollenien 

von Dr. Herbert Ruland

Der Weiler Bildchen stellte vor dem Ersten Weltkrieg einen Teil von Preußisch-Moresnet dar, während die Gehöfte links des Weges nach Hergenrath zu eben diesem Dorf gehörten. Durch den Versailler Vertrag gingen auch diese beiden Kreis-Eupener Gemeinden an Belgien über. Da Deutschland bestrebt war, einen Ersatz für den abgetretenen Grenzbahnhof Herbesthal anzulegen, erhielt es in Folge von Grenzkorrekturen im November 1922 u. a Bildchen (insgesamt 50 Hektar) sowie 110 Hektar Wald aus dem Gemeindegebiet von Moresnet, (vormals Preußisch-Moresnet) zugeteilt.

Bestand der Weiler bisher nur aus einigen mehr oder weniger einsamen Häusern, der vom regen Güteraustausch auf der Aachen-Lütticher Straße wie auch vom Kleinbahn-Berufs- und Ausflugsverkehr zwischen Neutral-Moresnet und Aachen kaum etwas abbekam, so sollte sich dies durch die Errichtung der Zollstation ändern.


Abfertigungsgebäude und Beamtenunterkünfte wurden geschaffen Zollagenturen, Speditionen und ähnliche Geschäfte siedelten sich hier an.

Nach dem 10. Mai 1940 wurde die Reichsgrenze weit nach Westen in altbelgisches Gebiet verschoben; das Zollamt Bildchen wurde für die nächsten Jahre nach Henri Chapelle  - oder wie es jetzt „grossdeutsch“ hieß - Heinrichskapelle verlegt!


Kalter Krieg und Westliche Werte

Nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus wurde die Westgrenze zu Belgien zunächst wieder in ihrem Vorkriegsverlauf festgelegt.

In der letzten Kriegsphase hatten jedoch einflussreiche belgische Kreise eine deutliche Ausdehnung Belgiens auf Kosten des besiegten Deutschlands ins Gespräch gebracht. Konkretere Pläne sahen neben Grenzkorrekturen eine ganze oder teilweise Eingliederung der Kreise Monschau und Schleiden vor.

Doch bereits wenig nach der bedingungslosen deutschen Kapitulation hatte sich die politische Großwetterlage in Europa entschieden verändert. Die vormaligen Verbündeten - die Westalliierten unter der Führung der USA  und die Sowjetunion - standen sich zusehends feindlicher gegenüber.  Unter solchen Vorzeichen gewannen Pläne immer mehr an Kontur, das kriegserfahrene  Menschenpotential der Westzonen als Verbündete für die Auseinandersetzung mit dem Sowjetblock zu gewinnen. Schon aus psychologischen Gründern verbot es sich deshalb, den Westdeutschen mit Forderungen nach größeren Gebietsabtretungen zu kommen.

Ein von der belgischen Regierung am 14. November 1946 der Londoner Deutschland-Konferenz der Großmächte überreichtes Memorandum gab sich dann auch mit der Abtrennung von 30 km² deutschen Bodens zufrieden. An bewohnten Gebieten wären hierbei insbesondere Bildchen, Roetgen, Mützenich, Ruitzhof, Losheim und der Weiler Hemmeres ( bei Winterspelt in der Schneifel) betroffen gewesen. Vorrangiges Interesse der belgischen Seite war es nunmehr Schwachstellen der Grenzregulierungen von 1920/22 zu beheben.

Im Land Nordrhein-Westfalen setzte nunmehr eine geschickte Gegenpropaganda ein, die sich kategorisch jeder Änderung der Vorkriegsgrenzen widersetzte. In Rundfunk- und Presseerklärungen, auf Grenzland-Kundgebungen wurden die belgischen Absichten mit tiefer Entrüstung und flammendem Protest zur Kenntnis genommen. Die Redner steigerten sich in der Behauptung, dass durch diese eher bedeutungslosen Grenzkorrekturen der Einigungsprozess Westeuropas gar die noch jungen deutschen Versuche in westlicher Demokratie in ihren Grundfesten bedroht wären. Der großen (west-) europäischen Mission im Dienste des Friedens, der Freiheit und der christlichen Zivilisation wurde für diesen Fall der vollständige Zusammenbruch vorausgesagt.

Im Frühjahr 1949 einigten sich die drei westlichen Hauptalliierten und die Beneluxstaaten in einer gemeinsamen Grenzkommission, darauf, die von Belgien geforderten Grenzveränderungen zum 23. April des gleichen Jahres zu vollziehen.

Am Karfreitag, dem 15. April - wenige Tage nach Gründung der NATO - erklärte das belgische Außenministerium überraschend, dass zumindest vorläufig auf die Angliederung von Roetgen, Mützenich und einigen weiteren Grenzstreifen verzichtet werde.


„Grenzlanddank“ in Roetgen und Mützenich

Die vorläufige Verzichtserklärung Belgiens auf Roetgen und Mützenich wurde dort am Ostersamstag durch den Rundfunk bekannt. Anders als in der Kreisstadt Monschau in Aachen, Düren und Düsseldorf sah man aber in diesen beiden Dörfern keinen Grund zum Feiern. Die Roetgener und Mützenicher wollten nämlich damals in ihrer großen Mehrheit Belgier werden. Dem Nachkriegselend in Westdeutschland zu entkommen, endlich einmal wieder alles essen können, gute Zigaretten rauchen, Schokolade in Hülle und Fülle das waren die Gründe, weshalb sich die Dorfbewohner nach Belgien sehnten!

Gegen die Gebietsabtretung waren unter den Einheimischen eigentlich nur die Staatsbeamten und die auswärts beschäftigten Industriearbeiter, die bei einem Eintausch ihres Lohnes in belgische Franken Einbußen befürchteten.

Ebenfalls am Samstag durchfuhren Lautsprecherwagen die beiden Dörfer um für die Teilnahme an einer für den nächsten Tag eilig nach Monschau einberufenen „Grenzlanddankkundgebung“ zu werben, zu der auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Arnold sein Kommen zugesagt hatte. Auch Plakate forderten dazu auf. Sie wunden von der aufgebrachten Dorfbevölkerung entweder umgedreht oder mit Sprüchen wie „Es lebe Belgien!“ und „Roetgen will belgisch werden“ überpinselt. Kein Wunder,  dass die vorsorglich nach Roetgen und Mützenich entsandten Gratisbusse gerade mal ein Dutzend Menschen aus beiden Ortschaften nach Monschau bringen konnten.

In Roetgen am gleichen Tag: Obwohl niemand offiziell dazu eingeladen hatte, war der Saal einer Kneipe proppevoll.

Die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung in den nicht-grenzberichtigten Dörfern spiegelt sich in folgender mit lauter Stimme vorgetragenen und unwidersprochen gebliebenen Äußerung wieder: „Wenn Arnold nach Mützenich gekommen wäre, so hätten ihn die Mützenicher mit Schlägen aus dem Dorfe herausgejagt, und wenn man in Roetgen eine Abstimmung durchführte, so wären 80 v. H. für die Angliederung an Belgien!“ ...

Nachspiel: In Mützenich trat wenig nach der belgischen Entscheidung der Gemeinderat in geheimer Abstimmung zusammen und forderte in einer Petition an den belgischen Außenminister dringend die Eingliederung oder zumindest die Abhaltung einer Volksabstimmung.

Das Ansinnen wurde Ende Mai bekannt, der Gemeinderat seitens der Düsseldorfer Landesregierung wegen Landesverrats abgesetzt und durch den Hauptausschuss des Kreises als „kommissarischer Gemeinderat“ ersetzt.


Von denen, die „Bollenier“ werden durften

Freitag, 22. April 1949: der letzte Tag vor der Abtretung Bildchens, Losheims und des Weilers Hemmeres ( bei Winterspelt, Kreis Bitburg-Prüm)  an Belgien war angebrochen. Am belgischen Grenzkontrollpunkt Tülje (gegenüber Bildchen) sah alles wie immer aus, nichts deutete auf eine baldige Veränderung der Verhältnisse hin.

In Bildchen, am deutschen Zoll war dagegen schon alles gepackt.  Die Schranken waren weg, die Zollbaracke abgerissen und durch Blumenbeete ersetzt worden.  Schwerbewaffnete deutsche Beamte begleiteten LKWs der britischen Militärverwaltung Richtung Aachen.  Am letzten Tag deutscher Zeit hatte man in Bildchen systematisch Häuser gefilzt und wohl größere Mengen Waren beschlagnahmt, die dort in Erwartung guter Geschäfte nach der Grenzverschiebung gehortet worden waren.

Und auch die Kleinbahnschienen und Strommasten von Bildchen bis zum Unteren Backertsweg waren bereits abmontiert und in die Stadt geschafft worden.

Kurz vor sechs Uhr am nächsten Morgen in Tülje: hier erwarteten drei hohe Beamte und ihre Begleiter die volle Stunde: Generalleutnant Bolle, zukünftiger „Militärgouverneur der anzugliedernden Gebiete“,  Zollinspektor Lamoy, zuständig für die technische Durchführung der Grenzberichtigungen sowie der Vertreter der öffentlichen Sicherheit Inspektor Simon.  Als schließlich noch der in Aachen tätige belgische Verbindungsoffizier Major Delmotte und der Chef der britischer Frontier Control, Hauptmann  Lunn, erschienen waren, ging es pünktlich mit dem Auto die 1.500 Meter bis zur neuen Grenze,

Nichts deutete hierbei auf militärische Besetzung, hartes Regime gegenüber der Bevölkerung hin. Bewusst verzichteten die neuen Machthaber auf alles, was irgendjemand in den angegliederten Gebieten in seinen Gefühlen hätte verletzen können.

Nach einer von Bolle noch am gleichen Tag erlassenen Proklamation konnte niemand dazu gezwungen werden, die belgische Staatsbürgerschaft anzunehmen - wobei aber zu sagen ist, dass ein ge­nerelles 'Belgiermachen' erst dann hätte einsetzen können, wenn die Kammer förmlich der Eingliederung der unter Auftragsverwal­tung stehenden Gebiete zugestimmt hätte. Jeder, der von einer persönlichen Option für Belgien keinen Gebrauch machen wollte, sollte wie jeder andere Ausländer in Belgien behandelt werden.  Wollte ein Einwohner nach Deutschland verziehen, so stand dem nach Begleichung eventueller Schulden und Steuern nichts im Weg.  Bewegliche Güter durften dabei mitgenommen oder wie Immobilien auch verkauft werden. Sequestermaßnahmen (Be­schlagnahmungen von Eigentum) gegen nicht anwesende Ortseinwohner waren nicht vorgesehen.

Auf das Hissen der belgischen Fahne in Bildchen, Losheim, Hemmeres und an den anderer übernommenen Plätzen, wurde auf aus­drücklichen Wunsch der belgischen Regierung verzichtet, die Ein­gliederung sollte nicht den Charakter einer Eroberung haben.

Und die Bevölkerung: sie hat die neuen Herren wohl nicht mit glühendem Herzen herbeigesehnt, man wartete ab, wusste ja nicht so genau, was jetzt kommen würde.  „Wenn wir nur Arbeit und zu essen haben“ , dies scheint der Grundtenor in der Bevölkerung gewesen zu sein. Außerdem freute man sich auf das reichhaltige Angebot der Geschäfte in Kelmis, Eupen und Verviers.

In Lichtenbusch scheinen einige 'Altbelgier' wohl nicht so ganz damit zufrieden gewesen sein, dass nunmehr  auch die andere Seite der Raerener Straße zu Belgien  gehörte. Nirgendwo ließ es sich bisher leichter schmuggeln als hier.


Das Probetrinken

 

Am gleichen Tag in der Kneipe am alten Zoll in Bildchen. Das Gastzimmer war mit zahlreichen Menschen besetzt, wobei der äußere Anlass war, dass hier die Antragsformulare für die neuen belgischen Identitätskarten abzuholen waren. Rechtzeitig war auch ein LKW mit belgischem Bier und Limonade eingetroffen - also auch hier Umstellung!

Das in allgemein fröhlicher Atmosphäre stattgefundene 'Probetrinken' soll bis in den frühen Morgen gedauert und unter den Anwesenden zahlreiche 'Opfer' gefordert haben

Verwaltungstechnisch stellten die unter belgischer Auftragsverwaltung stehenden Nester eine Einheit dar. Zuständig für Gemeindeangelegenheiten und die Ausstellung von Zivilstandsurkunden war ein von Bolle eingesetzter Beamter, der an festgesetzten Tagen in Bildchen, Losheim oder Hemmeres zu erreichen war. Ihm zur Seite stand ein Vertrauensmann, der jeweils vor der Dorfbevölkerung bestimmt wurde.

Insgesamt umfasste „Bollenien“ 1.350 Hektar und etwa 7oo Einwohner. Unumstrittene 'Hauptstadt' war Bildchen, wo bei der Angliederung auf ungefähr 160 ha 380 Personen lebten. Hinzu kam noch ein etwa 30 ha großer Streifen vormals reichsstädtischen Gebiets zwischen der Lütticher Straße und der Böschung der Haupteisenbahnlinie mit auch noch einmal 100 Menschen.

'Verwaltungszentrum' war das ehemalige Zollhaus in Bildchen. Hier residierte nicht nur der Bürgermeister 'Bolleniens' Gouder de Beauregard und der Feldhüter, hielt Gemeindesekretär Karl Heins Loewe zweimal wöchentlich seine Sprechstunde  ab, sondern hier befand sich auch die vom belgischen Staat für die Bildchener Kinder eingerichtete Schule.

Wie sollte es mit diesen unter Auftragsverwaltung stehenden Nestern weitergehen? Die belgische Kammer machte keine Anstalten, sich mit einer endgültigen Eingliederung zu beschäftigen und auch von der nur vorläufig ausgesetzten Angliederung Roetgens und Mützenichs, sprach bald hier wie dort kein Mensch mehr.

Das bilaterale Verhältnis zwischen Belgien und der Bundesrepublik verbesserte sich in den nachfolgenden Jahren entscheidend. 1955 war die Bundesrepublik der NATO beigetreten. 1957 unterschrieben Italien, Frankreich, die Bundesrepublik und die Beneluxstaaten die Römischen Verträge, die Gründungsakte der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).

Bereits am 24. September 1956 war es zur Unterzeichnung des Brüsseler Vertrages durch Belgien und die BRD gekommen, der eine weitestgehende Rücknahme der Grenzberichtungen von 1949 vorsah und weitere bilaterale Fragen regelte.

Er sollte am 28. August 1958, null Uhr in Kraft treten.


Schauplatz Bildchen 1958

Bereits eine Woche vor dem Stichtag 28.8. war damit begonnen worden, die deutschen Zollbaracken am Unteren Backertsweg zu entfernen und sie gegenüber der bisherigen ‚Schaltzentrale Bolleniens’ wieder aufzubauen.

Punkt null Uhr am 28.8. brachen 10 deutsche Zollbeamte vom bisherigen Kontrollpunkt auf um nun wieder 1.500 Meter weiter westlich ihren Dienst zu versehen.

Die offizielle Übergabe erfolgte um 12.00 Uhr Mittags, als der Aachener Stadtdirektor Dr. Josef Breuer, Regierungspräsident Schmitt-Degenhardt und Generalmajor Bolle – diesmal in Zivil – gemeinsam den Weg durch Bildchen zur neuen Zollstelle fuhren.

Bildchen war wieder Ortsteil Aachens.

Die Neuordnung der politischen Verhältnisse war auch diesmal wieder am ehesten an der veränderten Getränkesituation in den Bildchener Kneipen spürbar. Bereits um 0.02 wurde am 28.8 im Grenzhof deutscher Gerstensaft angeliefert, acht Minuten später ging er durch den Zapfhahn.

Stellt sich eigentlich im Nachhinein nur noch die Frage, wer schneller seine Nationalsäfte auf dem Kneipentisch hatte, 1949 die Belgier oder 1958 die Deutschen?

Die bisherigen Bewohner Bolleniens fügten sich auch diesmal wieder ungefragt in ihr Schicksal - es wird ihnen aber auch nicht allzu schwer gefallen sein, denn in der Bundesrepublik war das Wirtschaftswunder angesagt!


Quellenverzeichnis:

Mirkes, Dietmar: Die Revolte von Mützenich – als Deutsche Belgier werden wollten, in: VHS der Ostkantone (Hrsg.): Reisebuch Ostbelgien, 1. Aufl., o.O., o.J. (Eupen 1986), S. 29-34

Ruland, Herbert: Kuriositäten an der deutsch-belgischen Grenze. 1949: Bildchen wird Hauptstadt von ‚Bollenien’, in:  Eifelverein (Hrsg.): Eifel Jahrbuch 2006, Düren (2005), S.129-135

Zeitungen:

Grenz-Echo, Eupen, 22. Jg. 1949, Nr. 42, Nr. 48, Nr. 62, Nr. 94 u. Nr. 95

Aachener Nachrichten, Aachen, 5. Jg. 1949, Nr. 27 u. 42. Jg. 1988, Nr. 185

 

 

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