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„Die Tatsache scheint zu erschrecken, dass so etwas in Aachen möglich ist“
von Herbert Ruland
Unbekannte Fotografien vom Morgen nach der Pogromnacht
1988 veröffentlichte Arieh Eytan —
1938 noch Edgar Friesen — im Mitteilungsblatt des Kibbuz Gesher seine Erinnerungen an
das Geschehen, das er am Morgen des 10. November 1938 in seiner Heimatstadt
Aachen erlebte. Sein Weg zur Arbeit in einer ehemals jüdischen Tuchfabrik, die
sich bereits „im Verlauf der Arisierung befand“, führte ihn durch die ganze
Innenstadt Aachens:
„Ich verließ
unsere Wohnung auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz, ca. 20 Minuten zu Fuß, und als ich an einem großen Schuhgeschäft vorbeikam sah ich eine größere
Menge
von Menschen neben den zerstörten Fenstern dieses Geschäftes und einen Polizisten, welcher für Ordnung
sorgte. Ich dachte, dass hier sicherlich ein Unfall war und selbst als sich
dasselbe Bild mehrere Male kurz danach wiederholte, dachte ich noch nicht an irgendetwas
Besonderes. Als ich jedoch in die Stadtmitte kam, traf ich einen Freund auf einem Fahrrad,
welcher mir zurief, dass die Synagoge brennt. Sofort wurde mir bewusst, dass
dies mit den „Unfällen“ an den jüdischen Geschäften zusammenhängt. Ich wendete mich um und
lief schnell der Gegend zu, wo sich unser Gotteshaus befand und je näher ich kam umso mehr
roch ich den Rauch des Feuers. Aber was ich empfand, als ich vor diesem Gebäude
stand - ein prächtiger Tempel mit zwei Kuppeln - kann ich nicht beschreiben. Unsere
Familie war zwar nicht allzu religiös, aber die Synagoge und die daneben liegenden
offiziellen jüdischen Anstalten, darunter unser Jugendheim, waren stets das Zentrum des jüdischen
Lebens und bedeutete uns Allen weitaus mehr als lediglich ein Haus. Einige Minuten
weilte ich dort; die Feuerwehr bemühte sich, dass der Brand nicht auf die
Nachbarschaft überging, tat jedoch nichts um das Feuer zu löschen - und als die
eine
der Kuppeln in Trümmern zusammenfiel, war's mir als ob man mir ein Messer
durchs Herz, gestoßen hätte. Es war mir schwer, den Ort zu verlassen, aber ich musste doch zur Arbeit“.
Die im
Folgenden vorzustellenden Fotografien aus Aachen illustrieren exakt die von Eytan geschilderten Vorkommnisse
und zeigen sogar noch weit mehr.
Zur
Geschichte des Fotofundes
Die Aufnahmen
stammen aus einem umfangreichen Fotobestand, den der Autor im November 1996 erhielt. Die Aufnahmen befanden
sich in einem Postpaket, auf dem mit braunem Wachsstift der Hinweis „alle
Negative“ vermerkt war. In Wirklichkeit bestand der Inhalt neben Tausenden
Negativen verschiedenster Größe auch aus fast ebenso vielen Abzügen, außerdem
aus Postkarten, Eintrittsbillets, Rechnungen, ja sogar Pariser Metro-Tickets.
Die Entstehung des Fotomaterials lässt sich auf Grund der Beschriftungen und
des Fotoinhalts ungefähr auf die Zeit zwischen 1936 und Ende 1939 datieren. Ein
Glasnegativ zeigt die Einberufung des Fotografen zur Wehrmacht am 20. Januar
1940, und damit enden die Aufnahmen. Aufgrund der langjährigen
Nachkriegsodyssee des Pakets ist dessen Inhalt sehr unterschiedlich erhalten.
Die Fotos sind teilweise in vorzüglichem Zustand, teilweise durch Wasserschäden
völlig unbrauchbar.
Qualität und Schärfe der
Aufnahmen zeigen, dass hier kein Amateur am Werk war, sondern jemand, der sein
Handwerk verstand. Dies wird aus teilweise raffinierten Belichtungen und dem
erkennbaren Hang des Fotografen zum Experimentieren ersichtlich. Neben
Privataufnahmen finden sich zahlreiche Serien, die offensichtlich im Auftrag
für Dritte entstanden sind, zumindest aber zum späteren Verkauf bestimmt waren.
Neben dem uns hier speziell interessierenden Fund zum Novemberpogrom in Aachen
sind weitere Einzelaufnahmen und Serien mit hohem zeitgeschichtlichen Wert
vorhanden. Einige Fotos dokumentieren die „Vennbahn“, deren Bahnkörper dort, wo
die Strecke in der Eifel durch das Deutsche Reich verlief, laut Versailler
Vertrag eine belgische Enklave darstellte. Nach dem »Anschluss Österreichs« und
nach der Pogromnacht dienten die belgischen Bahnhöfe auf Reichsgebiet als
Anlaufstellen für jüdische Flüchtlinge. Eine äußerst beeindruckende Serie „vieux
marché“ entstand wohl im Frühjahr 1939 in Brüssel und zeigt unter anderem
orthodoxe Juden auf einem großen Flohmarkt.
Im Laufe der Kriegsjahre
scheint der Foto-Bestand in ein Dorf in den nunmehr vom Deutschen Reich
annektierten Kreis Malmedy gelangt zu sein. Mögliche Ursache könnten die
ständig zunehmenden Bombenangriffe auf die Stadt Aachen gewesen sein. Doch auch
in den besagten Eifel-Dörfern blieb dann im Winter 1944/45 während der so
genannten Rundstedt-Offensive kaum ein Stein auf dem anderen.
Höchstwahrscheinlich gingen deshalb nach Kriegsende der Fotograf und seine
Angehörigen von einem Totalverlust ihres Eigentums aus. Doch das Paket tauchte
etliche Jahre später bei einer Entrümpelung wieder auf und landete nach
oberflächlicher Sichtung in einem Keller. Der Autor erhielt das Paket
schließlich über einen Teilnehmer der VHS-Seniorenakademie in der belgischen
Eifel.
Zu den Fotografien vom 10. November 1938 in Aachen
Die hier sechs vorzustellenden Fotografien befanden
sich in einem der damals üblichen Schutzumschläge für Negative und Abzüge der
Firma Agfa. Mit Rotstift ist auf dem Umschlag das Wort „Juden“ vermerkt. Es fanden
sich acht Abzüge, sieben davon in der Größe 6 x 8 und einer im Format 7 x 7.
Zwei der Abzüge, die in einem Aachener Fotogeschäft entwickelt wurden, zeigen
den Brand der Synagoge, sechs belegen die Vorgänge rund um das Schuhhaus Speier
in Aachen. Zusätzlich sind zwei Negative 6 x 6 von unterschiedlicher Qualität
erhalten geblieben, die die Ereignisse vor der Synagoge dokumentieren. Unklar
bleibt bisher, ob diese Fotos aus Interesse des Fotografen an den
Pogrom-Vorgängen oder doch vielleicht im Auftrag Dritter entstanden sind.
Unbekannt ist auch, ob der Fotograf ursprünglich noch mehr Aufnahmen von diesen
Ereignissen anfertigte.
Erstmals wurden vier der
überlieferten Fotos in der Tageszeitung »Aachener Nachrichten« am 26. Februar
1997 veröffentlicht. Dies führte zu vielfältigen Leserreaktionen. Tatsächlich
sind Aufnahmen zur Reichspogromnacht mit dieser Aussagekraft durchaus selten,
insbesondere, was Fotos über die Zerstörung und Plünderung jüdischer Geschäfte
anbelangt. Bislang kennen wir meist nur Bilder, die den Zustand jüdischer
Geschäfte einige Tage nach der Pogromnacht wiedergeben. Auf ihnen sind in der
Regel die Aufräumarbeiten und das Absichern von Schaufenstern durch
Bretterverschläge zu sehen, nicht aber die Vorgänge selbst. Öffentlich waren
Vergrößerungen der Aufnahmen 1997 einen Monat lang im Funkhaus des Belgischen
Rundfunks (BRF) in Eupen zu sehen, im Rahmen einer regionalen Ergänzung zur
Ausstellung „Schweigendes Grauen - ehemalige NS-Vernichtungslager in Polen“.
Diese Ausstellung, in der auch Dokumente und Fotografien zu „Flucht, Verfolgung
und Widerstand im Grenzland“ gezeigt wurden, war erneut Anlass für Zeitzeugen,
über ihre Erlebnisse während des Pogroms in Aachen zu berichten.
Zur Pogromnacht in Aachen
1933 lebten in der Stadt Aachen 1.345 jüdische
Bürger. Bei einer Gesamtzahl von 162.774 Einwohnern machte das 0,83 Prozent der
Bevölkerung aus. Ein nicht zu unterschätzender Anteil der jüdischen Aachener
gehörte der Oberschicht an. Neben Fabrikanten und Geschäftsleuten gab es viele
jüdische Akademiker, Juristen, Ärzte, Apotheker, Lehrer und Professoren.
Infolge der anti-jüdischen Politik seit 1933 emigrierten viele jüdische
Aachener. 1939, nach dem Pogrom, lebten nur noch 782 in der Stadt.
Wegen des Attentats auf
einen deutschen Botschaftsangestellten in Paris hatte Hitler am Abend des 9.
November in München im Beisein von Goebbels entschieden, dass die Juden in
Deutschland jetzt „den Volkszorn zu verspüren bekommen“ sollten. Darüber
informierte man noch in derselben Nacht landesweit die Partei und ihre
Gliederungen. Der auf diese Weise von der NS-Führung inszenierte Pogrom
gegenüber der jüdischen Bevölkerung dauerte eine Nacht und einen Tag: Menschen
wurden ermordet, Geschäfte geplündert, Synagogen gebrandschatzt und Wohnungen zerstört.
Allerorten verhaftete die Polizei jüdische Männer, insgesamt um die 30.000 und
brachte sie in Konzentrationslager.
Wie in vielen anderen
deutschen Städten, übernahm auch in Aachen die lokale Parteiprominenz die
Durchführung des Pogroms. Am frühen Morgen des 10. November, gegen vier Uhr,
steckten zunächst Aachener Feuerwehrleute sowie Angehörige der
Parteiformationen — alle auf ausdrücklichen Befehl in Zivil — die Synagoge in
Brand. Noch während diese Aktion andauerte, zogen „unter Führung der Beamten
der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), welche die Listen der jüdischen Betriebe,
Geschäfts- und Wohnhäuser erstellt hatten, Trupps von SS und SA durch die
Straßen der Stadt, verwüsteten und plünderten jüdische Betriebe und Geschäfte,
demolierten ihre Wohnungen und nahmen wohlhabende Juden in Schutzhaft“. In
Aachen wurden insgesamt 70 Juden festgenommen.
Ein Blick in die lokale und
regionale NS-Presse trägt begreiflicherweise nichts Näheres zur Erhellung der
für Aachen geschilderten Pogrom-Vorgänge bei. Hingegen erweist sich die
Durchsicht der damals im grenznahen Ausland erschienenen Zeitschriften als sehr
lohnend. In den deutschsprachigen Tageszeitungen Eupen-Malmedys waren die
Ereignisse im benachbarten Aachen Thema. Allerdings stand ein großer Teil
dieser Presseorgane der Heimattreuen Front nahe; unter diesem Tarnnamen
firmierte die dortige „Heim ins Reich“- und Nazibewegung, die vollständig von
der Gauleitung der NSDAP in Köln kontrolliert wurde. Ihre Berichterstattung
unterschied sich daher in keiner Weise von derjenigen der Goebbelschen Propagandaorgane.
Sowohl in der „Eupener Zeitung“ wie in den „Eupener Nachrichten“ ist am 10. und
11. November deshalb lediglich nachzulesen, dass nach Bekanntgabe des Todes des
Diplomaten Ernst von Rath sich der Unmut der Bevölkerung im ganzen Reich „vielfach
in starken antijüdischen Aktionen Luft“ gemacht habe. Auch in Aachen sei es zu
„großen judenfeindlichen Kundgebungen“ gekommen, wobei „alle jüdischen
Geschäfte vom Volk gestürmt, [...] Schaufenster und die Inneneinrichtungen
[...] zerstört“ worden seinen. Ähnlich wurde dort über „spontane Aktionen“ in
Düren, Köln und Frankfurt berichtet. Unter der Rubrik „Aus aller Welt“, und
dies auch erst auf Seite drei, berichtete die „Eupener Zeitung“ am 10. November
über ein „Großfeuer in Aachen“, bei dem die dortige Synagoge niederbrannte.
Jeglicher Hinweis auf die Urheberschaft fehlt. Man schrieb lakonisch: „Das
Ergebnis der polizeilichen Untersuchungen über die Brandursache bleibt
abzuwarten“.
Zum Brand der Synagoge
Ganz anders reagierte die „Libre Belgique“, eine
angesehene katholische Tageszeitung, die - aufgeschreckt durch die
Propagandatiraden der Eupener pro-nazistischen Blätter - noch im Verlauf des
10. November einen Sonderberichterstatter nach Aachen entsandte, der folgendes
meldete:
„Wir gehen [...] durch die Stadt und sehen vom
Kaiserplatz aus schon den Rauch und die Flammen, die aus dem noch stehenden
einzigen Türmchen der Synagoge am Promenade(n)platz aufsteigen. Zwei Kompanien
Feuerwehr stehen abwartend auf dem Platze; ihre Aufgabe erschöpft sich darin,
zuzusehen und den Ordnungsdienst aufrecht zu erhalten. Die „Judenkirche“ muss
brennen und brennt auch schon 7 Stunden lang [...]. Jenseits der Sperrkette
sahen viele Menschen mit undurchdringlichen Mienen dem Brande zu. Nur eine
Bemerkung wurde laut von einer Nazifrau, deren Hass erfülltes Gesicht eine
Ausnahme machte: ‚Wenn der zweite Turm einstürzt, müssen wir Hurrah rufen’. Sie
fand damit aber kein Echo in der Menge [...]. Ein alter biederer Geschäftsmann,
ein Freund aus früheren Tagen raunte uns unter der Hand zu:
"Jetzt sind die
Juden dran, hinterher geht es an uns Katholiken“.
Auch das »Limburgs Dagblad« aus Maastricht hatte
noch am 10. November einen Redakteur nach Aachen in Marsch gesetzt, der über
die Menschen vor der Ruine ähnlich berichtete:
„Von dem jüdischen Bethaus stehen im Übrigen nur
noch die Außenmauern. Innen ist es völlig ausgebrannt [...]. Der Platz steht
voll mit Menschen, die starr auf die Ruine schauen. Niemand sagt etwas.“
Die Fotos 1 bis 3 illustrieren genau diese
Beschreibungen der Synagoge gegen Mittag des 10. November. Deutlich zu erkennen
sind die Rauchschwaden, die aus den Türmen emporsteigen und die geschwärzte
Fassade über dem Portal. Menschenmassen säumen den Platz, auch Kinder sind auf
den Fotografien zu erkennen. Fast alle starren in Richtung Synagoge, nur wenige
Leute unterhalten sich, wie deutlich auf einer Aufnahme zu erkennen ist. Auch
dies ist ein Beleg für die allgemein geschilderte gedrückte Stimmung.
Vor den Menschen steht in weiter Reihe Schutzpolizei
postiert. Auf der Straße sieht man Löschfahrzeuge, die den „arischen Besitz“ in
der Nachbarschaft schützen.
Das katholische Eupener
„Grenz-Echo“ kritisierte in seiner Ausgabe vom 12. November besonders die
unrühmliche Rolle der Aachener Feuerwehr. Die Synagoge habe nach
übereinstimmenden Erzählungen noch am Nachmittag des 10. November gebrannt und
die Hilfeleistung der Feuerwehr habe dem Worte Schillers entsprochen: „Müßig
sieht er seine Werke und bewundernd untergehen“.
Ein Mitglied der Aachener Berufsfeuerwehr
wurde übrigens beim Autor wegen eines dieser Fotos vorstellig. Allerdings
interessierte er sich nur für das neben der Synagoge befindliche Feuerwehrauto,
da sich ein entsprechendes Bild bis dato nicht in deren Sammlung befand.
Zu den Vorgängen am Schuhhaus Speier in der Großkölnstraße
Wie überall in Deutschland, wurden in der Pogromnacht
auch in Aachen viele Geschäfte zerstört. Der Berichterstatter der „Libre
Belgique“ schilderte seinen Eindruck am Tag nach diesen Taten:
„Aachen Marktplatz! [...] Wir gehen am früheren
Kaufhaus Tietz vorbei, das man in Ruhe gelassen hat, weil es seit einigen
Jahren „arisiert“ ist. Bald finden wir die Spuren der Vorgänge, die erst ein
paar Stunden zurückliegen. Ein Haufen von Männern und Frauen steht bekümmert
vor der demolierten Auslage eines der schönsten Geschäfte der Stadt, der Firma
Speier. Nirgends wird eine Bemerkung laut, es wäre viel zu gewagt, offen die
Meinung zu äußern. Man hört nur die Hammerschläge der Arbeiter, welche die
gähnenden Öffnungen der zerschlagenen Spiegelscheiben mit Brettern verkleiden.
Es gibt in diesen Tagen viele solche Bretterverschläge in Aachen“.
Als der Redakteur des „Limburg's Dagblad“ in die
Großkölnstraße kam, war das Zerstörungswerk hingegen noch zu besichtigen, die
Schaufenster bei Speier und auch am Konfektionshaus Stern hatte man noch nicht
mit Brettern gesichert, zwei Schutzpolizisten standen auf der Wacht und viel
Volk war auf der Straße:
„Ich war verblüfft über die Art, wie die Menschen
die Vorgänge betrachten. Ob sie eher bestürzt sind, ob sie eher Angst haben
[...]. Die Gesichter sehen angespannt und bedrückt aus. Es gibt niemand der
lacht oder überhaupt eine Bemerkung macht. Man schaut stumm vor sich hin, die
Tatsache scheint zu erschrecken, dass so etwas in Aachen möglich ist.“
Die hier gezeigten Fotos von
den Vorgängen am Schuhhaus Speier müssen also am frühen Vormittag entstanden
sein, denn von Aufräumarbeiten oder vom Anbringen der Holzverkleidungen ist
noch nichts zu sehen. Stattdessen sind die Folgen der Zerstörung deutlich
wahrzunehmen.
Dass die Plünderungsmaßnahmen noch andauern, darauf deuten die Kinder
und Jugendlichen vor und in den demolierten Schaufenstern hin (Bild 4). Der
Junge, der in die Kamera blickt und mit dem rechten Bein auf der
Fenstereinfassung steht, hält wohl einen Schuhkarton in der Hand. Ein Teil der
Aachener Lehranstalten scheint an diesem Tag ihren Schülern unterrichtsfrei
gegeben zu haben. Das erklärt die vielen Kinder und Jugendlichen auf den
Bildern. Der Redakteur des „Limburgs Dagblad“ gibt an, dass ihm als deutsche
Patrioten über jeden Zweifel erhabene Aachener Bürger glaubhaft versichert
hätten, dass Elementarschullehrer ihre Schüler sogar zum Plündern aufgefordert
hätten. In dem zweiten Mädchen von links erkannte sich übrigens eine Frau
wieder, die damals mit ihren Eltern in diesem Haus wohnte. Als sie an diesem
Tag ihrer Mutter mitteilte, sie wolle sich ebenfalls ein paar Schuhe von der
Straße holen, gab diese ihr energisch zu verstehen, dass sie dann aber die
gemeinsame Wohnung nicht mehr betreten dürfe. Die Verwüstungen und Plünderungen
in Aachen fanden sogar in den Deutschland-Berichten der Sozialdemokratischen
Partei Erwähnung:
„Beim Schuhhaus Speier wurden 7 Schaufenster
eingeschlagen, innen wurde alles zerstört und die Waren wurden auf die Straße
gestreut. Dasselbe geschah beim Konfektionshaus Stern und Marx, sowie beim
Konfektionshaus Winterfeld in der Cornelius Straße. Ferner wurden geplündert:
Gummiwarengeschäft Saul, Bettwarengeschäft Seelmann, Engrosgeschäft Bär,
Restaurant Schild und viele andere Unternehmen. Nirgends war das Volk
beteiligt. Es war lediglich die Nazi-Räuberbande, die alles zerschlug und
ausraubte«.
Entgegen der Feststellung
dieses Berichtes hatten sich aber nicht nur die Pogrom-Täter bei ihrem
Zerstörungswerk in der Nacht bedient, sondern am folgenden Vormittag hatten
auch noch Kinder und Heranwachsende die in den Auslagen herumliegenden
Warenbestände geplündert.
Diese Bild des Kaufhaus Speier zeigt zahlreiche
Menschen, die an dem zerstörten Geschäft entlang promenieren, wobei sie auch
Neugier hier hin geführt haben könnte. Es macht den Eindruck, als wenn die
meisten Erwachsenen, wie ja auch oben zitiert — ob nun aus Scham oder Angst —
nur flüchtige Blicke auf das demolierte Geschäft werfen und ansonsten auf die
andere Straßenseite sehen. Die Kinder dagegen vermitteln den Eindruck, als wenn
der Ort für sie eine Art Abenteuer Spielplatz darstellte!
Nur den Jungen vor
dem demolierten und leer geräumten Schaufenster, zu sehen auf diesem Bild, scheinen
die ganzen Vorgänge zum Nachdenken angeregt zu haben. Was sich in Aachen
während und direkt nach der Pogromnacht abspielte, geschah so oder ähnlich auch
in vielen anderen deutschen Orten. Aachen aber war westlichste Großstadt des Deutschen
Reiches und Einkaufsziel für viele Bürger aus den Nachbarstaaten. Die
ungeheuerlichen Meldungen über die Vorgänge in Deutschland mobilisierten deshalb
auch verständlicherweise die Verantwortlichen der in den angrenzenden
belgischen und niederländischen Städten erscheinenden Presseorgane. Hinzu kam
noch, dass viele Belgier und Franzosen am 11. November — einem arbeitsfreien
Gedenktag an den Waffenstillstand von 1918 — damals wie heute einen Besuch in
Aachen planten. Nach den Zeitungsberichten wollten viele wissen, was dort
vorgefallen war. Diejenigen, die die Stadt dann besuchten, bekamen einen
Eindruck von dem, was sie nach einem deutschen Überfall zu erwarten hatten. Das
Eupener „Grenz-Echo“ beschrieb am 13. November 1938 die Wirkung des
Novemberpogroms auf das benachbarte Ausland auf ironische Weise: „Eine Belebung der arischen
Wirtschaft durch die Vernichtung des jüdischen Eigentums ließ sich zweifellos
feststellen, denn die Stadt wimmelte von Ausländern aus Holland, Belgien und
Frankreich, die alle einen persönlichen Eindruck über die Vorfälle gewinnen
wollten und sich auch ihre Meinung gebildet haben.“
Die hier erstmals
überregional präsentierten Fotos, ergänzt durch die Berichte der Auslandspresse
und Zeitzeugenerinnerungen, erlauben somit einen Einblick auf Teile des
Geschehens am Vormittag nach der Pogromnacht, wie es wohl für andere deutsche
Städte bisher nicht möglich ist.
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