aus dem authentischen Tagebuch einer damals 21-jährigen "Reichsdeutschen" überarbeitet von Herbert Ruland
Ulrike kam zu Beginn der 40er Jahre mit ihrer
Familie aus Deutschland nach Eupen, wo ihr Vater die Leitung einer Bank
übernahm. Im Herbst 1944 entschloss
sie sich, ein Tagebuch fortzuführen, das
ihre Mutter 1923 anlässlich der Geburt der
Tochter begonnen hatte. Ulrike
beschrieb hier die letzten Tage der deutschen Herrschaft im Eupener Land, die Befreiung durch die Amerikaner
und die schließlich im August 1945 erfolgte Ausweisung der Familie nach Aachen. Ein einzigartiges Dokument liegt vor: hier geht
es nicht um Kriegserlebnisse an fernen Fronten, sondern um das (Über-)Leben der
in Eupen verbliebenen Menschen, also insbesondere um Frauen, Kinder und Greise. Deren großen, aber auch alltäglichen Nöte und Ängste während der Umwälzungen 1944/45 werden hier plastisch geschildert.
Dort, wo der Text allzu persönliche Angelegenheiten
der Autorin enthält, wurden
Kürzungen vorgenommem. Nur die Namen von
Personen, die in der Eupener Zeitgeschichte
eine Rolle gespielt haben und die auch allgemein bekannt sind, werden hier
vollständig wiedergegeben, andernfalls folgen Kürzel. Ansonsten ist der Text aber in jeder Weise authentisch,
wobei aber zur Auflockerung Zwischenüberschriften eingesetzt wurden. Notwendige Erläuterungen aus Verständnisgründen sind in Klammern hinzugefügt.
Ulrike lebt heute in einer rheinischen Industriestadt.
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Reichsinnenminister Frick in Eupen am 25. Mai 1940 |
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Begrüßung der Reichsreferentin des BDM, Dr. Jutta Rüdiger
in Eupen 1941
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Reichsjugendführer Axmann auf Burg Stockem |
Eupen,
den 12.11.44
Nach über
20 Jahren will ich nun selbst von den letzten
Monaten berichten, die wir hier in Eupen
erlebten. Einige Wochen vor meinem 22. Geburtstag (2.9.44, H.R.) kündigten sich
die kommenden Ereignisse schon an. Nachdem
die deutschen Soldaten gegen die
Übermacht an Material sich in Frankreich
tapfer gehalten hatten, ging es plötzlich schnell mit dem Rückzug. Zuerst kamen
nur Büros und Etappenstellen, dann aber hielt es sich dran, in einem fort
fuhren Autos auf der Vervierser Straße vorbei.Die Kinder bestürmten die
Soldaten um Süßigkeiten und wurden damit bedacht. Ab und zu rasselten auch
Panzer vorbei, einer stand die ganze Nacht vor dem Hause und die Insassen
schliefen umschichtig bei uns im Keller und waren dankbar für das Bett. So ging
es nun die ganze Woche weiter... (3.9.): Mittags hielt vor dem Elektrizitätswerk
ein großes Rot-Kreuz-Auto, das schlapp gemacht hatte. Drei sehr nette
Schwestern kamen und baten darum, sich mal auf einen Stuhl setzen zu dürfen.
Wir luden sie natürlich zum Mittagessen ein; aber außer etwas Suppe wollten sie absolut nichts
nehmen. Tagelang waren sie schon unterwegs, immer wieder von Jagdbombern
beschossen. Wirklich tapfere Mädels.
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NS-Frauenschaftskundgebung im Saal des Kurhotels (ca. 1943)
Auf dem unteren Foto: (2. von rechts) Kreisleiter Herwanger,
daneben Gauführerin Hofmann. Die Rednerin ist Frau Stayen.
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Die
'Goldfasanen' ziehen Leine
Die folgende
Woche brachte große Erschütterungen. Die Truppen rückten näher und viele bekamen
es mit der Angst zu tun, zuerst mal die in der Partei aktiv Tätigen. Man
bereitete alles zum Auszug vor, viele hatten in Bezug auf Sprit und Auto organisieren
schon gut vorgearbeitet. Jedenfalls mussten PC's (Mitglieder der NSDAP, H.R.)
und alle Angehörigen von Formationen Uniform tragen, um die Überzeugung der
Bevölkerung zu dokumentieren!!
Es war ein
köstlicher Anblick, die PC's, die alle doch über 50 und alles andere als
soldatisch waren, mit einer Knarre bewehrt Propagandamärsche machen zu sehen.
Ja, es sollten sogar noch fremde PC's hergebracht worden sein. In den letzten
Nächten wurden dann noch politisch nicht einwandfreie Volksgenossen verhaftet.
Sie sollen als Geiseln mit nach Deutschland genommen worden sein. Die
Bevölkerung schwieg und behielt ihre Gedanken für sich.
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Räumungsaufforderung des Kreisleiters Herwanger an die
Eupener Bevölkerung vom 04.09.1944
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Gehen oder
bleiben?
Am nächsten
oder übernächsten Tag (4.9.) erging dann eine Aufforderung an die Bevölkerung,
zu räumen. Die Aufregung war groß. Wir waren bei L's., um zu hören, was man so
darüber dachte. Jedenfalls waren nur etwa 300 Leute, Mütter mit Kindern und
alte Leute, bei dem ersten Schub. Wie sie weggekommen sind, weiß ich auch nicht
mehr, ich glaube, man durfte jedes Fahrzeug benutzen und sich mitnehmen lassen.
Ihr Schicksal war wohl auch bitter, denn in Deutschland ist auch alles von
Ausgebombten überfüllt und sie wurden bei Bauern unter freiem Himmel
'untergebracht'. Nur Frau Bredohl (Frau von Bernhard B., Wirt des 'Kurhotels'-
Volksmund: 'Braunes Haus' - und einer der führenden Eupener Nazi-Aktivisten,
H.R.), die in einem voll gepackten Auto mit Kind und Kegel geflohen war, bekam
eine Wohnung. Frau Gierets (Wwe. von Stephan G., Kreisleiter der 'Heimattreuen
Front' und später der NSDAP in Eupen, H.R.), überlebte die Aufregungen nicht
und starb durch einen Schlaganfall.
Dr. S. vom
Gesundheitsamt und Frl. B. u. die anderen vom Arbeitsamt machten sich zur Zeit
aus dem Staub; mit Recht, denn das über all die Ungerechtigkeiten und
Zwangsmaßnahmen empörte Volk wäre vielleicht handgreiflich geworden. Seine
Uniform fand man mit Pass(!) im Straßengraben. Auch die NSV
(Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, H.R.) rückte ab. Als wir von L's an
jenem Abend nach Hause kamen, war die Stadt wie ein aufgewühlter Ameisenhaufen.
Die Leute standen alle in den Türen und berieten allgemein über Fliehen oder
Bleiben. Allgemein hörte man 'wir bleiben', besonders die alten Eupener, die
das ja nun schon mehrmals mitgemacht hatten, rieten zum Bleiben. Frau D. wollte
sich ein Loch auf der Wiese buddeln, der eine wollte in den Wald, der andere
richtete den Keller ein. Jedenfalls wurde für jeden ein Sturmgepäck mit dem Allernötigsten
und Koffer mit dem Nötigsten gepackt. /.../. Wir fürchteten Beschießung, ab und
zu hörte man schon Ballerei. Als es scheinbar schon ganz kritisch war (6.9.),
schliefen wir dann eine Nacht bei L's, da sie einen prima Keller haben. In
dieser Nacht waren wir sogar entschlossen, bei Beschuss in den Wald zu fliehen,
Richtung Hilltal. L's hatten zu diesem Zweck einen Kinderwagen bepackt, auch
Spiritus zum Kochen nicht vergessen.
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Zwar blieb Eupen von großen Fliegerangriffen verschont.
Zurückkehrende allierte Piloten, deren Maschinen Flaktreffer
abbekommen hatten, entledigten sich aber aus Sicherheits-
gründen schon einmal übrig gebliebener Bomben. Hier ein
Einschlag auf einer Wiese an der unteren Nörether Straße.
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Opferfeuerchen
und gebratene Säuglinge
Der Krach der
vorüber fahrenden deutschen Panzer ließ uns nicht zur Ruhe kommen. Wir wachten
auf und waren immer noch nicht 'eingenommen'. Jeder, der Geheimakten besaß,
entzündete ein Opferfeuerchen und übergab mit Freuden diese Dokumente dem
Feuertod. So rauchte es auch aus manchem Kellerloch. Wir waren in grässlichen
Zweifeln, ob wir nicht doch noch alle fort mussten, da Vater ja Beamter ist
.../. Ich besuchte Herrn Dr. H. (Dr. Hennig, den evangelischen Pastor, H.R.), um
ihn zu befragen. Er war damit beschäftigt, Säuglinge aus einem Kinderheim nach
Gummersbach zu bringen, weil man fürchtete, die Amerikaner würden „sie auf
einen Säbel spießen, braten und zum Frühstück verzehren.“ Er riet uns zu
bleiben, allerdings würden wir später ausgewiesen werden. Donnerstagabend musste
dann Vater plötzlich weg, nach Stolberg. Noch schwankten wir, ob wir nicht ohne
alles mitfahren sollten. An und für sich hatte sich die Lage etwas beruhigt,
die Amerikaner waren noch nicht so nah /.../. Am nächsten Morgen warf ich trotz
Herrn D’s Warnung, dass die Post schon
abgezogen sei, einen Brief an den Bruder ein, bereute es aber schon in
derselben Sekunde. /.../. (8.9.) Da wir hofften, dass Vater wiederkäme, fuhr
ich ihm mit Gerhards Rad entgegen. Aber ich kam nicht weit, überall war Krach
und Schießerei, ich glaube, sogar der Westwall wurde bombardiert, dicker Rauch
stieg hinter der Ketteniser Kirche auf. /.../ In einer Pause entwich ich dann
wieder nach Hause. /.../.
Die
Minensperre
In der Senke
zwischen uns und Garnstock wurde quer über die Straße eine Minensperre
angelegt, und damit sahen wir unser und des Hauses Schicksal schon deutlich vor
uns. Nun kam die furchtbarste Nacht in all den Wochen. Angezogen verbrachten
wir sie im Keller. Strom war natürlich nicht mehr da, also brannten wir die
ganze Nacht Kerzen. Die Stunden schlichen, es war kaum zum Aushalten, dazu
Schießerei. Plötzlich, morgens um 1/2 4 Uhr, trampelten Soldatenstiefel über
den Kies im Durchgang. Wir fuhren auf und starrten in die Kerze. Mir schlug das
Herz im Halse, das mussten die Feinde sein. Ich hatte grässliche Angst, wer
weiß, was sie mit uns anfingen, und die Neger! Dann hörten wir deutsche Worte.
Als sie an die Tür bummerten, öffneten wir schnell. Es war eine Handvoll Soldaten,
die eben bei uns Unterkunft suchten. Wir verstanden nichts von allem und
fürchteten, dass sie sich im Kampf befanden und aus unserem Hause weiterkämpfen
und womöglich aus den Kellerlöchern schießen würden. Als wir soweit beruhigt
waren, holte Frau B. ihren Sekt von oben und verteilte ihn an die Jungs, die
über eine heiße Tasse Kaffee wohl froher gewesen wären./.../.
Am anderen
Tag, es war Sonntag, der Tag des Herrn (10.9.44, H.R.), wurde erst mal
ausgiebig für das leibliche Wohl gesorgt. Büchsen und Dauerbrot hatten sie noch
genug, Kaninchen und Milch wurden von den Bauern besorgt, Kartoffeln ohne
weiteres ausgegraben. /..../
Die Soldaten
waren meistens draußen mit Buddeln beschäftigt und lösten sich beim Bewachen
der Minensperre ab. Sie zeigten eine merkwürdig gehobene Stimmung, vielleicht
war es Galgenhumor. /.../.
An diesem Tag
war es ganz schlimm in der Luft, den ganzen Tag waren Jabos, Jagdbomber, dabei,
alles, was sich regte und bewegte, zu beschießen. Man konnte kaum raus, doch
gelang es mir, eben von Tür zu Tür zu L's zu laufen. Sie rieten natürlich zu
kommen, denn wir mussten ja annehmen, dass sich auf der Hauptverkehrsstraße
oben bei uns Kämpfe abspielen würden. An dem Sonntag wurde auch der Bahnhof
bombardiert und die mit Ausladen beschäftigten Soldaten beschossen. Häuser am
Bahnhof wurden auch in Mitleidenschaft gezogen. /.../.
Durch einen
Knall wurden wir am anderen Morgen aufgeschreckt. Da mussten die Minen
hochgegangen sein! Aber noch immer nicht von einem Feindpanzer, sondern von
einem eigenen Lastkraftwagen. Ein Soldat wurde verwundet, einer von unseren
landete nach einer kleinen Luftreise wohlbehalten 5 Meter abseits.
Kampf bis aufs
Messer
In einer der
letzten Zeitungen war die Bevölkerung aufgefordert worden, jeden Steg zu
sprengen, ihre Heimat (mit dem Brotmesser) zu verteidigen (Westdeutscher
Beobachter vom 7.9.44, vgl. GE v. 3.9.1994, Beil. 1944-1994, S.7, H.R.). Man
reagierte aber sauer! Jedenfalls brachte Mutter die Oma zu L's. Sie kam kaum
mehr nach Hause und musste bei Frau P. eine ruhige Minute abwarten. Gegen
Mittag kam sie angehetzt und brachte unsere Soldaten, die nichts ahnend und
ruhig Kartoffeln schälten, auf den Trab. In der Unterstadt sollten bereits die
Panzer sein. Jedenfalls, unsere Einquartierung brach auf, die Helme wurden
aufgestülpt, und jeder schwang sich auf sein Rad. Merkwürdig, kein Blick
zurück, kein Abschiedsgruß, für die armen Kerle wurde es ernst.
Wir waren
natürlich etwas erleichtert, denn sie fuhren Richtung Aachener Straße davon und
'Kämpfe' würden sich also nicht abspielen. Ihr gutes Mittagessen brutzelte noch
auf dem Herd. In großer Eile tilgten wir ihre Spuren. Mutter und ich
verbrachten die nächsten Stunden im Keller auf der Couch liegend. Mutter fand
diese Stunden mit der Schießerei grässlich, ich fand sie nicht so schlimm.
Die Amerikaner
sind da
Plötzlich kam
Frau B. mit der überraschenden Nachricht, dass die Kinder sich von den
Amerikanern Süßigkeiten erbettelten. Da fiel uns aber ein Stein vom Herzen!
Damit war der
Einmarsch fast kampflos erfolgt, nur am Markt hatte ein Panzer (ein
Panzerabwehrgeschütz, siehe GE Beil, ebd., S.5, H.R.) sich widersetzt und war
mit den dahinter liegenden Häusern (Katzenbella, Heck etc.) in Brand geschossen
worden. Vorsichtig kamen wir auf die Straße, wo alles schon befreit und in
einer gewissen Hochstimmung in Grüppchen (auf der Straße) rumstand. Viele
Nachbarn schwammen in Wonne. Also die Panzer waren nicht etwa über die
Vervierser Straße sondern durch die Oe gekommen, ganz anders als erwartet. Das
hatten wir hinter uns, ich hatte aber immer noch Angst und zog mich zum Gaudium
der Nachbarschaft sofort diskret zurück, als das erste amerikanische Auto
heranflitzte. Auch der Anblick der ersten Neger ging mir noch durch Mark und
Bein; aber man gewöhnt sich an alles.
Die 'Armee
Blanche'
Aus der Angst
kamen wir aber nicht heraus, die weiße Garde, die 'Armee Blanche', spukte in
Belgien und wir hatten Beklemmungen, wenn wir an Rauben, Plündern, Verschleppen
dachten. Sie ließ auch nicht lange auf sich warten, bald zogen Trüppchen von
'Soldaten' durch die Stadt, die sich durch einen sackleinernen oder blauen
Arbeitsanzug mit weißer Armbinde und die prächtigsten Baskenmützchen von
anderen Militärpersonen unterschieden. Sogar mit Knarren waren sie bewaffnet.
Sie nahmen die Verhaftungen vor, die sich aber nur auf persönliche Gründe,
Denunziationen, Neid und ähnliche edle Motive stützten. Immer mehr Leute mussten
zur Gendarmeriekaserne, zum großen Teil die besten Leute von Eupen. Die Großen
lässt man laufen, die Kleinen sperrt man ein! Manche wussten noch nicht mal,
was sie eigentlich verbrochen hatten, aber in einer Kleinstadt kennt jeder
jeden und mancher ist schnell auf den Schlips getreten und rächt sich auf diese
vornehme Weise. 3 Tage lang nach dem Einmarsch gingen wir überhaupt nicht raus,
auf der Straße regierte der Plebs beiderlei Geschlechts. Strom gab es nicht,
Streik in Belgien! /.../.
Am 22. (9. 1944,
H.R.) gab es wieder Licht, am 23. Gas, wie immer mit Sperrstunden. In der
stromlosen Zeit machte sich das Versagen einer Klingel sehr unangenehm
bemerkbar, wenn jemand gegen die Tür bummerte, witterte man gleich Unheil.
Natürlich 'requirierte' die weiße Garde auch und veranstaltete Haussuchungen.
Gleich in den ersten Tagen erschienen unheimlich viele Bekanntmachungen, mit
Schreibmaschine getippt. Die Abend(sperr-, H.R.)stunde wurde eingeführt und
immer weiter nach vorn verlegt. In der Zeit zwischen der Flucht aller
Dienststellen und dem Einmarsch hatten manche Geschäftsleute Waren ohne Marken
verkauft, aber die Rationierung blieb weiter bestehen. Eines Abends war Mutter
noch im Garten, da wurde sie von einem Weißgardisten angerufen. Großes
Erschrecken!
Aber wir
hatten nur schlecht verdunkelt. Nachher kam der Soldat noch rein und bat um ein
Glas Wasser, wunderte sich über die warme Küche und wollte die angebotene
Zigarre nicht nehmen.
Kaugummikauen
wird modern
In den
folgenden Tagen wurden wir durch Schießen in nächster Nähe sehr erschreckt und
stürzten in den Keller. Als militärische Laien konnten wir natürlich nicht
hören, dass es sich nur um Abschüsse handelte, die Geschütze standen auf der Hochstraße
und auf Schlembachs Wiese. Ich meine, wir
wären sogar noch eine halbe Nacht unten im Keller gewesen. Eines Nachts stürzte
Frau B. in unser Schlafzimmer, sie hatte eine VI (Rakete, eine der sogenannten
'Wunderwaffen', mit denen der
Nazi-Propaganda nach Deutschland
noch den Krieg gewinnen würde, H.R.)
gehört. Wir hörten auch das Pfeifen und den Einschlag, ließen uns
aber von
diesen ganz gewöhnlichen Granaten den Schlaf nicht rauben. Die
Amerikaner schliefen alle Zelten,
Einquartierung gab es in den ersten Wochen nicht. Oben auf „Hermann'sche
Wies“ entstand ein
Sanitätspark, der ständig wuchs. Sämtliche Kinder der Vervierserstraße
waren von da oben nicht mehr wegzubringen und dankten mit Souvenirs (Abzeichen)
für Essen und Süßigkeiten. Es wurde modern, Kaugummi zu kauen, auch Oma
versuchte, seine Vorzüge zu ergründen. Auf unserer Straße wurde es nun nicht
mehr ruhig, Wagen hinter Wagen mit Kriegsmaterial rollte vorüber, die ganze
Macht dieses Staats kam uns zu Bewusstsein.
Hoher Besuch?
An einem der
nächsten Sonntage wurde plötzlich die Stadt recht hübsch geschmückt, die
Straßenränder entlang pflanzte man Prozessionsfähnchen auf und pappte an die
Pfähle die Kennzeichen der alliierten Nationen. Kein Mensch wusste, wem der
Schmuck galt, man vermutete 1) die Einführung des Bürgermeisters Zimmermann, 2)
Besuch eines Bischofs aus Brüssel 3) Besuch
eines englischen Geistlichen 4) Besuch des Ministers Pierlot und noch verschiedener
anderer Würdenträger. Am Rathaus prangte ein Transparent: Es lebe Belgien! Es
lebe der König! Es lebe der Regent! Dazu pladderte es und keiner war gezwungen,
im Wolkenbruch Ovationen darzubringen. Wer nun Eupen beehrt hatte, ist nicht
bekannt geworden, jedenfalls hingen die Fähnchen eine Woche, zwei Wochen, die
Pfähle fielen um.
'Reichsdeutsche'
und 'Belgier'
Mit dem
Einmarsch der Amerikaner spaltete sich die Eupener Bevölkerung schlaglichtartig
in zwei Schichten: In 'Reichsdeutsche' und Belgier. Leider gehörten wir zu der
ersten bedauernswerten Menschenklasse und wurden uns dessen immer mehr bewusst.
Deutschland erklärte ja Belgien noch den Krieg und so waren wir Angehörige feindlicher
Staaten. Als solche mussten wir uns von einem Sonntag ab jeden Tag melden,
zuerst in Gruppen von je dreizehn Deutschen, dann je nachdem in drei Meldestellen
morgens oder mittags. Wir mussten natürlich die Bergstraße bis oben rauf
klettern, dort befand sich das Lokal.
Immer wieder
hieß es, wir müssten auch gelbe Armbinden tragen, wie die armen Deutschen in
den altbelgischen Dörfern. Siehe Judenstern! Die Amerikaner sollen das aber
verhindert haben; überhaupt haben sie die Deutschen vor allzu radikalen
Maßnahmen beschützt. Merkwürdige Situation, von seinem Feind etwas beschützt zu
werden!
Als das Melden
zur Gewohnheit geworden war, kamen natürlich neue Aufregungen. Das deutsche
Geld musste umgesetzt werden. Da aber die ganze Finanzlage zum Teil durch die
deutsche Besatzung in Unordnung geraten war, musste der Staat zu Maßnahmen greifen,
die für jeden hart waren, hauptsächlich aber die Kriegsgewinner treffen
sollten. Die Deutschen bekamen überhaupt nichts, trotz immer neuer Gerüchte, an
die man sich klammerte. Die 'Belgier' bekamen 100 M. mit dem Kurs 1:10, 200 M.
mit 1:5 umgesetzt, also für 300 Mark pro Kopf gab es 2000 frs. Alles andere
'fror ein', wurde deponiert. Vorher war das ganze Geld abgestempelt worden,
auch ich stellte mich einige Stunden an, bis ich durch dieses primitive
Verfahren auch abgefertigt wurde. Prompt gab es natürlich solche, die den
Stempel fälschten oder ihn von einem Geldschein auf einen anderen,
ungestempelten aufbügelten! Viele Bauern, die für ihre Butter Wucherpreise
genommen hatten, sollen ziemlich geknickt gewesen sein. Diese ganze
Angelegenheit war natürlich für uns sehr aufregend und mit vielen Laufereien
verbunden, der Erfolg war negativ, wir bekamen wahrhaftig nichts. Die Lage in
Eupen war überhaupt sehr mies. Kein Werk arbeitete; aber es wollte auch niemand
arbeiten, alles privatisierte und genoss die nach der Schufterei im 'Einsatz'
doppelt kostbare, demokratische Freiheit. Leider wurden immer noch angesehene
Männer verhaftet ohne Aussicht, in Kürze wieder entlassen zu werden. Manche
mussten ja an ihrem Verstand zweifeln, wenn sie kurz vorher bei den Deutschen
gesessen hatten. Überhaupt lernte man die Menschen in der Not gut kennen.
Manche halfen rührend, besonders die in ähnlicher
Lage, einige
vergaßen, dass man bekannt gewesen war, ganz wenige benahmen sich charakterlos.
Es sollten auch einige Anträge von Deutschen gestellt worden sein, belgisch zu
werden. Der Rechtsanwalt (Notar, H.R.) Xhafflaire bezog wieder sein altes Haus.
Eines Tages fuhr sogar die erste Straßenbahn Richtung Dolhain an uns vorbei,
freudig begrüßt. Mit den Lebensmitteln war es recht knapp bestellt, aber
angeblich besser als in dem übrigen Belgien. Das Leben wurde billig, nur die
Mieten waren für die meisten unerschwinglich, besonders für die
Reichsdeutschen. Nach zehnwöchiger Pause nahmen wir auch wieder Lateinstunde,
ein wahrhaft heroischer Entschluss. Herr Dr. Hennig (der evangelische
Geistliche, H.R.) hatte sozusagen eine Privatschule gegründet, denn alle Kinder
hatten nun schon monatelang Ferien und waren selbst froh, wieder Unterricht zu
haben. Auch andere Lehrkräfte kamen natürlich auf diese glorreiche Idee. Es
wurde in Naturalien bezahlt - Käse.
Für uns war
der ganze Umschwung so besonders hart und schmerzlich, weil wir immer einseitig
gewesen waren. In Radio und Zeitung hatten wir nur immer und ewig die deutschen
Nachrichten und Propagandagesänge gehört, während die Grenzbevölkerung durch
die Fremdarbeiter und Auslandssender stets 'gut informiert' war. Ruhe war nun
die erste Bürgerpflicht. Man ging nur raus, wenn man unbedingt musste. Das Misstrauen
wucherte nur so, die besten Bekannten konnten einander nicht mehr trauen.
Wie tritt die
menschliche Gemeinheit in solchen Lagen hervor! Wir Reichsdeutsche empfanden
die Anzeigerei widerlich, ekelhaft, aber man muss sich auch in die
Grenzbevölkerung hineindenken, deren Nationalität sich innerhalb eines
Menschenlebens viermal änderte. Jeder, besonders der Geschäftsmann, will leben,
da muss man das Mäntelchen nach dem Wind hängen, ob einem das passt oder nicht.
Für uns war das jedenfalls alles neu und bedrückend.
'Briefe, die
sie nicht erreichten'
Allgemein
wurde nun der Luxemburger Rundfunk gehört, besonders die Sendung 'Briefe, die
sie nicht erreichten': Für einen Abend war ein Bericht über Eupen vorgesehen,
mit Briefen, die verlesen wurden. Wie überrascht waren wir aber, als Fräulein
U.H. an den Flieger G.H. in München schrieb: „Die Partei hat uns im Stich
gelassen. Alle Kanarienvögel sind fort. Sie haben ja auch gut vorgesorgt und
schon lange Benzin gespart. Möbel wurden möglichst mitgenommen. Wir durften nur
dreißig Pfd. mitnehmen und können zu Fuß tippeln. In der Zeitung liest man
dann, dass die Partei als letzte mit der kämpfenden Truppe den Ort verlässt!
Armer Junge! Es ist bitter, wenn sich Theorie und Praxis ins Gesicht
schlagen."
Diese Epistel,
an einem der letzten Tage in entsprechender Verfassung zu Papier gebracht,
machte mich für einen Tag bekannt und berühmt. Jeder fühlte sich verpflichtet,
mich anzugrinsen und Mutter wurde auf der Straße mehrfach deswegen
angesprochen. Bei L's musste ich mich von der ganzen Besatzung furchtbar
auslachen lassen. Herr L. versicherte mich aber seines Wohlwollens, ich durfte
weiter bei ihm arbeiten!!
Die Befreiung
Aachens durch die Amerikaner
Alles Eigentum
der Deutschen stand ja nun unter Sequester. Schließlich musste jeder
(Reichsdeutsche, H.R.) noch seinen Haushalt mit allen Klamotten zu Papier
bringen und am Amt für 'Civil affairs' abliefern.
Als die
Truppen am 11. September so widerstandslos durch Eupen sausten, glaubten wir
selbst, dass die Vergnügungsfahrt nach Berlin bald mit Erreichen des Zieles
beendet sein würde. Aber es kam ganz anders.
Der Westwall
bot kaum ein Hindernis; aber eh Aachen eingenommen wurde, vergingen ein paar
Wochen.
Schließlich
wurde die Stadt (am 10. 10. 44., H.R.) zur Übergabe aufgefordert. Nach Verlauf
der 48- (tatsächlich 24-, H.R.) Stundenfrist, hatte man überhaupt keine Antwort
gegeben. Mittags um 11.50 (am 11.10., H.R.) sollte daraufhin die Beschießung
der Stadt, besser des Trümmerhaufens, beginnen. Wir horchten nach draußen,
konnten aber auf die Entfernung hin nichts vernehmen. Die Beschießung dauerte
mindestens eine Woche. Der englische Nachrichtendienst meldete, die Stadt sei
zu 83-85% zerstört. Sehr vielsagend, wenn man nicht weiß, dass 80% der Stadt
schon durch Terror- (Luft-, H.R.) angriffe in den vergangenen Jahren in Schutt
und Asche gelegt worden waren. Vor und während der Beschießung müssen sich ganz
grässliche Szenen in den Häusern und Ruinen abgespielt haben. Die Stadt wurde
zwangsevakuiert; aber die Menschen verkrochen sich in ihre Trümmer und wurden
dann noch von der SS durch Keller und über die Dächer gehetzt. Plünderungen
durch SS und die eigenen Soldaten - es war für uns alles so schrecklich, so
niederdrückend, das von den eigenen Volksgenossen zu hören. Es muss eine Hölle
gewesen sein nach den Berichten von Dabeigewesenen, die später in Lager
gebracht wurden und auch nach Eupen kamen. Abends hatten wir vom Bodenfenster
mehrere Abende den Feuerschein über Aachen gesehen und vor Mitleid und Empörung
geweint. Am 21. Oktober wurde Aachen dann eingenommen und die paar wütenden,
abgezehrten Menschen, die 4 Wochen lang in den Kellern ihr Schicksal erwartet
hatten, zu einer widerlichen Propaganda missbraucht. Auch diese Ärmsten mussten
im Radio sprechen; dass ihre Erbitterung sich Luft machte, ist zu verstehen.
'Vergeltungswaffen'
über Eupen
Der Krieg ging
weiter ins Land und man hörte nur von Zerstörung, ob nun von der einen oder der
anderen Seite, bleibt sich fast gleich.
Eines Morgens
flog dann die erste VI über Eupen, jene geheimnisvolle Vergeltungswaffe, auf
die man so viele Hoffnungen gesetzt hatte. Es war ein Ereignis! Der eine hatte
das Raketenfeuerchen am Start schon gesehen, der andere nicht. Ich prägte
Mutter jedenfalls ein, sie müsste mich unbedingt nachts wecken und brachte dann
wirklich die Energie auf, mich für diesen Anblick aus dem Fenster zu hängen.
Bald brauchte man den Hals für diese Dinger nicht mehr zu verdrehen, ja,
morgens gegen acht kam stets ein VvD (V vom Dienst) vorbeigeknattert. Noch
flogen sie über uns, wer weiß wohin. Mit dem Zurückgehen der Front musste aber
die Beschießung Londons aufgegeben werden, man 'begnügte' sich damit, die
belgischen Städte, besonders Lüttich, zu befunken, wo sie dann in die Massen
der streikenden und nach Brot verlangenden Belgier einschlugen. Bald kamen
diese Dinger auch in der Nähe runter und eines Dienstags morgens war eine für
Eupen fällig. Sie schlug im Hause Cotta am Lascheterweg ein, also nur wenige
hundert Meter von uns weg, quer über eine Wiese. Ich ging gerade in den Flur,
da kam mit einem entsetzlichen Knall das Oberlicht heruntergerasselt. Ich hatte
in dem Regen der dolchesspitzen Splitter gestanden; aber nicht einer hatte mich
verletzt. Nachdem Oma und ich halb besinnungslos zum Keller gerannt waren und
Mutter auch noch weinend von oben kam, legte sich der erste Schrecken. Wir
gingen von Zimmer zu Zimmer, die herein geschleuderten Fensterscheiben,
Blumenpötte, Gardinen etc. boten ein Bild der Zerstörung, schlimmer als es wirklich
war. Mit Hilfe von Pappendeckeln war der Schaden innerhalb eines Tages behoben,
die ganze Straße kehrte Scherben raus und kloppte an den Fenstern rum. Die
Tipo-Männer (umgangssprachlich für Gefängnisinsassen, H.R.) bekamen zum Teil
frei, um zu Hause die Löcher zu dichten. Die Stimmung war natürlich beträchtlich
gesunken, und mancher kluge Mann sah voraus, dass es nicht die letzte VI
gewesen war. Von da ab flogen noch viele über uns, erregend wurde es nur, wenn
das Geknatter aussetzte; dann zog man sich vorsichtig in die inneren Gemächer
zurück, fort von den Fenstern, bis der Knall in zwei km Entfernung die
Erleichterung brachte.
Alltägliches
Durch die
Wiederbelebungsversuche an dem kranken Finanzwesen kam wirklich die Wirtschaft
etwas in Schwung. Das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage schlug in
manchen Artikeln jäh um. So gab es Obst in Hülle und Fülle, Brüsseler Trauben,
Chicoree, Gemüse, alles was das Herz begehrte, vergebens begehrte; denn Geld
hatte man für solchen Luxus nicht. Nur den ästhetischen Genuss der schön
geschmückten Fenster hatte man umsonst: Fast alles konnte man für teures Geld,
für Franken haben; aber jeder dachte so, es wird schon noch billiger, und
bezahlte 2,50 fr. für ein bisschen Milch und 4,50 fr. für ein Brot. Mieten
wurden wahrscheinlich von den Menschen meistens nicht bezahlt, keiner wusste,
wie man sie umzurechnen hätte. Auch unsere Hauswirtin zeigte sich zunächst
überaus menschenfreundlich und großzügig, später legte sich das, gelinde
gesagt. Die Geschäftsleute stellten sich am schnellsten um, man konnte schon in
den ersten Tagen Fähnchen aller siegreichen Nationen, Bilder der königlichen
Familie, Kitsch und Revolverromane bester Qualität, französische Journale und
Zeitungen erwerben. Reißenden Absatz fanden die ersten Blätter der 'Fliegenden
Taube', eines deutsch geschriebenen belgischen Blättchens. Wucher und
Schwarzhandel blühten. Post, Bahnverbindungen, alles dahin und bis jetzt noch
nicht wieder hergestellt. Das belgische Rote Kreuz besann sich dann auch zu
gegebener Zeit auf seine Pflichten. Jeder, der Angehörige im deutschen Heer
hatte, konnte um ein Lebenszeichen bitten. Angeblich sind diese Anfragen von
Deutschland nicht angenommen worden. Hatten die besorgten Anverwandten
geschrieben, es ginge ihnen noch gut, so widersprach es ja den deutschen
Nachrichten über Verschleppung der Frauen und Einrichtung von
Konzentrationslagern. Nur Weihnachten erhielten dann doch viele Nachricht über
die Männer.
Einquartierung
auf US-amerikanisch
Als es nun
kälter wurde und immer mehr Truppen nach Eupen kamen, wurden auch allmählich
Soldaten in den Häusern einquartiert, zuerst mal Büros.
Da man sich
allerlei Vergünstigungen und leibliche Genüsse davon versprach, waren die Leute
durchaus geneigt, Soldaten aufzunehmen. Auch bei uns wollte man in den beiden
vorderen Zimmern Büros einrichten und bei uns kochen. So hofften auch wir, dass
unserer misslichen, geldlosen Lage etwas aufgeholfen würde; aber wieder
vergeblich, nach zwei bis drei Tagen gaben wir das Warten auf. Dann schickte
uns Frau St. mehrere Soldaten. Schließlich nahmen zwei Offiziere das große
Schlafzimmer in Beschlag und traktierten uns am ersten Abend einmalig mit
ungekannten Köstlichkeiten. Bis jetzt haben sie sich sehr anständig und
zuvorkommend gezeigt, auch in ihrem eigenen Interesse Kohlen bringen lassen.
Obwohl wir nur noch in der Küche leben und sonst nicht so viel von der Wärme
profitieren, ist doch das ganze Haus nicht so eisig, denn durch die
Pappendeckel zieht's: Außerdem ist noch ein Dolmetscher bei uns, aus Montzen.
Der eine Offizier hat auch noch einen ganz deutschen Namen (Teschendorf).
'Recreation
Rest Center'
Je mehr
Truppen kamen, desto mehr lebte Eupen auf. Jeder wollte natürlich profitieren
und sich etwas Geld verdienen. Die Industrie mit selbst gefertigten Souvenirs
blühte, ich selbst arbeitete auf Bestellung Ledersächelchen und verdiente
überraschend viele Franken dabei. Überall in den Schaufenstern tauchten alte
und neue Handarbeiten
auf, die von
den Amerikanern wohl sehr geschätzt wurden. Für geistige Getränke wurden
sündhafte Preise verlangt und bezahlt.
Eupen wurde
sozusagen Vergnügungsmittelpunkt; denn in der amerikanischen Armee gibt es nach
zwei Wochen Kampf 48 Stunden Urlaub. Mit einem Papiermärkchen versehen und als
'victor' gekennzeichnet, läuft der Soldat aus zu großer Fahrt. Frau B. bekam
sogar eine Stelle in einem solchen 'Recreation Rest Center' und kriegte endlich
mal gut zu essen. Es wurde wirklich alles für die Männer getan, um sie 'wieder herzustellen'.
Viele Frauen wuschen auch die amerikanischen Klamotten und standen sich prima.
In der Apotheke musste ich nun all die absonderlichen Wünsche verdolmetschen
und bekam sie zu Herrn L's Empörung doch manchmal nicht heraus. Aber ich habe
doch wenigstens ein bisschen mein Englisch aufgefrischt, wenn auch unsere
Einquartierung leider immer deutsch sprach. In diesem vergnüglichen Tempo ging
es etwa bis Mitte Dezember ...
16.12.
Rundstedt-Offensive Der Krieg kommt (fast) nach Eupen zurück
Da kam ein
unerwarteter Angriff der deutschen Soldaten. Eines Nachts war plötzlich die
Hölle los, wir rannten in den Keller, es fielen Bomben, Schießerei, summa
summarum eine mulmige Viertelstunde und, wie später gesagt wurde, ein sehr
kritischer Augenblick. Die Fensterscheiben, eben erst hereingestümpert, fielen
planmäßig wieder raus, wieder gabs Scherben; aber es erregte uns kein bisschen
mehr. Wir gingen auch wieder zu Bett, obwohl wir eben erst um unser bisschen
Leben gezittert hatten. Morgens war wohl noch Artilleriebeschuss von den
Deutschen, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Aber in Eupen waren doch
allerlei Schäden, und in den folgenden Wochen kamen immer wieder neue dazu. In
den folgenden Tagen war Eupen fast Kriegsgebiet, glücklicherweise nur fast. Es
war ein Betrieb auf den Straßen von Truppenbewegungen!
Von
Urlaubszentrum natürlich kein Gedanke, es wurde leer. In nächster Nähe feuerten
Batterien ununterbrochen, die Scheiben zitterten. Wir schliefen trotzdem nicht
einmal im Keller wie alle anderen guten Eupener und ließen uns auch nicht den
Schlaf rauben; nur das Einschlafen zwischen zwei Schüssen wollte gelernt sein.
Schreckliche Tage kamen für Eupen, man stand zum Teil bereit zur Flucht,
diesmal zur Abwechslung Richtung Belgien. Aus dem Tipo (Gefängnis, H.R.) wurden
die 'politischen Verbrecher' fortgebracht nach Tongeren, man fürchtete gewiss
ihre Befreiung durch die Deutschen. Beim Abschied der armen Männer spielten
sich jammervolle Szenen ab, es lag wie ein schwerer Druck über der ganzen
Stadt. So traurig diese Zeit war, so musste man doch noch glücklich sein, dass
Eupen nicht Kriegsgebiet wurde, es ging hart vorbei, oben in den Wäldern war
immer etwas los. Oft hörten wir Maschinengewehrfeuer, konnten uns aber nicht
erklären, dass so nah gekämpft
wurde. Allmählich beruhigte sich die Lage, ohne sich zu ändern. Über Eupen war
Belagerungszustand verhängt, niemand durfte rein oder raus, bei uns oben am
Garnstock ist bereits Gemeinde Baelen. Die armen Dorfbewohner waren ganz
abgeschnitten und mussten sich das Brot von den Soldaten mitbringen lassen.
Alle Maßnahmen waren auf Spionageabwehr eingestellt. Ob wirklich hier in Eupen
so viel Spionage getrieben worden ist? Immer wieder wurden Leute verhaftet.
Über verkleidete deutsche Soldaten wurden die unglaublichsten Märchen erzählt.
Schließlich wurden die gefährlichsten Individuen verhaftet: zahlreiche frühere
BDM- (Bund- Deutscher-H.R.) Mädel und HJ-(Hitler-Jugend, H.R.)Jungen!!
Eines Tages
vor Weihnachten kamen vier MPs (Militärpolizisten, H.R.) rein, zwei stürmten
ohne weiteres vom Keller zum Boden durch das ganze Haus, einer verlangte unsere
Pässe. Ich hatte natürlich Herzklopfen, denn schließlich sind wir Deutsche und
immer solchen Sachen wie Haussuchung ausgesetzt. Aber die Kerls gingen die
ganze Straße ab, sie suchten deutsche Fallschirmjäger!
Weihnachten
1944
So kam
Weihnachten heran, für viele das traurigste Fest, auch für unsere Amerikaner,
wie sie behaupteten. Vorbereitungen wurden keine getroffen, es fehlte aber auch
alles dazu, nicht nur die Lust und Freude. Still und beschaulich, ohne Musik,
saßen wir im ausnahmsweise warmen Herrenzimmer und dachten an all die fernen
Lieben, für die wir bangten, ob sie nun in der Heimat oder aber an der Front
sind.
Zu unserer
Überraschung kam dann noch Frau C. mit einem Amerikaner. Frau C. war so nett,
mich auch vorher schon mal einzuladen, wenn ihre beiden Soldaten bei ihnen
waren. Wir waren dann fröhlich zusammen und traktierten uns an Frau C's gutem
Kuchen. Einen Abend wurden die dollsten Fotographien gemacht und wir waren so
ausgelassen, dass wir vor Lachen nicht mehr konnten. Merkwürdiger Gedanke, mit
seinen 'Todfeinden' lustig zu sein! Und sie waren auch ganz anders, als unsere
Propaganda sie geschildert hatte.
Der US-Soldat
Viele der
Soldaten stellten ein Idealbild eines deutschen Mannes dar, außerordentlich
groß, breitschultrig, sehr viele blond, wirklich zum Verlieben. Ihre ganze Art
ist anders als die der 'Preußen', legerer, sportlich und ungezwungen. Offiziere
und Mannschaften kann man kaum unterscheiden, sie sind die besten Kameraden,
und man hört nie Kommandos. Geht ein Trupp Amerikaner über die Straße, so schlendern
dreißig verschieden Uniformierte über den Bürgersteig, siehe deutsche
Marschordnung! Sie werden außerordentlich gut verpflegt, bringen aber auch
alles mit über den Teich, ich vermute sogar, auch das Trinkwasser!
Müssten sie
unter den Bedingungen kämpfen wie die hungernden, frierenden, heimatlosen,
ausgemergelten deutschen Soldaten, wäre der Krieg längst entschieden.
3. Mai 1945
Hitler soll
nun schon seit dem 29. tot sein (Selbstmord im Bunker der 'Reichskanzlei' in
Berlin am 30. 04., H.R.), und das Kriegsende kommt immer näher. Ich will
versuchen, wenigstens etwas von all den Ereignissen festzuhalten, die auf uns
einstürmten seit Weihnachten. Oben in der armen, heimgesuchten Eifel tobte der
Kampf noch wochen- und monatelang, nichts ist dort verschont geblieben, es muss
ganz entsetzlich sein.
'
Merkwürdigkeiten'
bei der Ausweisung der Reichsdeutschen
Nach
Weihnachten begann der Abtransport der Deutschen (aus Eupen, H.R.), zuerst
einmal der Aachener. Im Schneesturm, kläglich in Decken gehüllt, auf Lastwagen
gings ab, Richtung Heimat. Auch unsere Frau Breuer bekam nachmittags eine
Aufforderung für den anderen Tag, so wie das jetzt Mode ist, möglichst
kurzfristig. Wir waren sehr gedrückt, es hieß, wir müssten alle fort, natürlich
nur mit dem Nötigsten. Wenn ich so durch unsere schöne Wohnung ging und mir
dabei vorstellte, dass dies alles fix und fertig an irgendeinen Belgier kommen sollte,
dann tat ich mir doch leid. Wir konnten die unnachgiebig von Frl. J. auf 1200
frs. festgesetzte Miete natürlich nicht mehr bezahlen und machten uns langsam
mit dem Gedanken vertraut, auszuziehen. Also auf die Wohnungssuche. Frau R.,
eine Nachbarin, hatte sich auch schon verkleinert. Ein anderer Reichsdeutscher
wollte uns aufnehmen, hatte aber noch eine Aachener Familie bei sich, die erst
fort sein musste. Dann geschah etwas Merkwürdiges: Eines Mittags kam ein etwas
unheimlicher Zivilist und eröffnete mir, dass Frau H. und Tochter morgen früh
um halb zehn Uhr nach Aachen abtransportiert werden sollten. Ich war ziemlich
benommen, die arme, aus dem Schlaf gezerrte Mutter geriet vollständig aus der
Fassung, zumal auf dem handgeschriebenen Zettel, den der Unbekannte vorlas,
vermerkt war, dass unsere Möbel an F., ...Straße gingen, als Entschädigung für
einen Heizungsofen. Geschichten, zu ekelhaft, um drin zu wühlen. Wir rannten
sofort zu Herrn B., ich heulte, Mutter erzählte mit flammendem Zorn diese
Schufterei und die Erregung legte sich erst durch die Mitteilung, dass alle
Transporte gesperrt seien. Auch auf der Stadt trugen wir die Angelegenheit vor
und hörten, dass von Polizeibeamten an dem Tage gar keine Benachrichtigungen
ausgetragen worden waren. Lassen wir das ruhen und und hoffen, dass die
Schuldigen einmal eine harte Strafe trifft, sie haben Mutters Gesundheit auf dem
Gewissen!
Umzug und neue
Einquartierung
Nun hieß es in
größter Eile umziehen, Frau R. wechselte sogar freundlicherweise mit uns,
sodass wir am kommenden Montag den Möbelwagen von Heck in Anspruch nehmen
konnten. In zwei Tagen musste nun all unser Kram verpackt werden, vieles wurde,
wenn auch schweren Herzens, weggeschmissen. Es war zuviel für meine arme
Mutter, die sowieso nur ein Fädchen war, während Oma all ihren Kram ohne jede
Hilfe verstaute. Der Sonntag war wüst, Frau C. kam uns helfen und war entsetzt
über all unsere überflüssigen Dinge. In jenen Wochen wandelte sich meine
Ansicht über Besitz und lebensnotwendige Dinge noch grundlegend. Montag früh
erwarteten wir mit Spannung den Wagen /.../. So kam die Sache ins Rollen. Die
erste Fuhre war glücklich auf dem Boden des Herrn B. abgeladen, da kam wieder
was dazwischen: Einquartierung! Der Boden wurde belegt mit 12 Mann, wohin nun
mit unseren 6 Zimmern? Alles wurde unten in ein schnell ausgeräumtes Zimmer
gepackt, /.../. Unsere Betten hatten sich die Kerls schon angeeignet, mussten
sie aber auf /./ energisches Eingreifen hin, wieder rausrücken. /.../. Als ich
dann in das andere Haus kam, hatten die Soldaten es schon richtig mit Beschlag
belegt und ich kam mir ein bisschen verlassen unter all den Riesenkerls vor.
Mein Englisch ließ mich erst mal im Stich, doch verstand ich soviel, dass der
Koch mit mir sprechen wollte. Diesen Moment werde ich auch nicht vergessen, da
er sich durch seine Kameraden zu mir durchschlängelte, die Verkörperung eines
Klabautermanns: klein, geduckt, scheu, Stoppelbart, zwinkernde Augen hinter
dicken Brillengläsern, vor Fett glänzende Jacke. Ich musste mich wirklich
zusammennehmen, nicht zu lachen. Er fragte, ob er in der Küche auf dem Herd
anstatt in der Garage das Essen bereiten dürfte, wir sollten mit den Brotsamen,
die von des Reichen Tisch fielen, bedacht werden. Klar! Zumal in dieser knappen
Zeit. Am ersten Abend wagte ich nicht aufzusehen /.../ unter all den fremden
Blicken. /.../.
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Aachen 1946: Der Trümmerschutt ist schon beseitigt. Blick
vom Theater in das zerstörte Zentrum der Kaiserstadt.
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Nervenzusammenbruch
der Mutter
Nun schien alles
recht gut zu sein, da wurde Mutter schwer krank - alles, was in den letzten
Tagen und Wochen auf sie eingestürmt war, verdichtete sich zu furchtbaren
Vorstellungen, ein schwerer Nervenzusammenbruch folgte den Aufregungen. Für Oma
und mich folgte die schwerste Zeit. Mutter lag unten im Wohnzimmer, in dem sich
Bettstücke, Möbel, Teppiche zu grausigem Chaos türmten und ihr bestimmt im
Traum erschienen. Wir wechselten uns in den anstrengenden Nachtwachen ab, bis
es nicht mehr ging. Oh, wie musste ich laufen und bitten, um sie im Hospital
unterzubringen, erfolglos! Wir sind Deutsche. Auf Fürsprache gelang es doch und
auch die Fahrt ins Krankenhaus abends spät werde ich nicht vergessen. Ich musste
die Nacht dort im Lichtbadezimmer verbringen, denn ich durfte ja nach sechs Uhr
(Ausgangssperre, H.R.) nicht mehr über die Straße. Die Schwestern waren so lieb
zu mir, es tat mir richtig gut. Mutter war gut aufgehoben. Jeden Tag besuchte
ich sie nun in meiner knappen Mittagspause; langsam, langsam ging es ein bisschen
besser. Glücklicherweise konnte ich ihr meistens was Gutes, Abgespartes
mitbringen. Wie ideal wäre es gewesen, hätte Mutter als Hausherrin wirken und
sich ein bisschen pflegen können.
'Take it easy'
So musste Oma
sie vertreten und erwarb sich durch ihre Art die Achtung der ganzen
Rasselbande. Die hatte sich ganz selbstverständlich in der Küche
niedergelassen. Bei dem ständig schlechten Wetter und dem ungeheizten Bodenraum
waren meistens so vier bis acht Soldaten unten, sodass für uns nur der Raum
gleich an der Tür frei war. Den ganzen Tag jazzte das Radio, zu Omas ganzem
Entsetzen. Die /../ alte Chaiselongue war meistens von vier Männern in Querlage
oder zweien in Längsrichtung 'belegt' und war schließlich bis auf den Boden
durchgelegen. Frl. S. und ich waren sehr zurückhaltend, sie erzählte mir
nachher, sie hätte genau wie ich vor der Küchentür gestanden und an sich
herumgezupft, ehe sie es wagte einzutreten, um gleich wieder rechtsum in der
kleinen Spülküche zu verschwinden. Dort war unsere Zuflucht, da bügelten und
stopften wir unsere Wäsche.
Wir hatten
Glück mit der Besatzung, es waren wirklich anständige Kerls und der Koch,
allerdings ein kleiner Italiener, eine Seele von einem Menschen. Natürlich ging
vieles in Haus und Garten drauf und wir hatten wochenlang zu tun, halbwegs
wieder Sauberkeit und Ordnung hereinzubringen.
Allmählich
gewöhnten wir uns aneinander, und ich trug die ewigen Meckereien über meine
vollschlanke Linie mit Gleichmut. Wirklich, sie lebten alle nach dem
amerikanischen Wahlspruch: Take it easy. Beneidenswert! Ihr leichter, sozusagen
komfortabler Dienst ließ mich an unsere armen Soldaten denken.
Sie haben mir
sehr geholfen, diese schwere, durch Mutters Krankheit verdunkelte Zeit zu
tragen. Man konnte einfach keine trüben Gedanken haben, auch wenn man sich wie
wir, nicht mit ihnen unterhielt oder spielte. Bei ihren Kartenspielen flog das
Geld nur so; uns armen Kirchenmäusen gingen fast die Augen über.
Einladung zum
'movies'
Schließlich
wurden wir auch mal zum movies, zum Kino mitgenommen. Ich muss schon sagen, ich
habe hin- und herüberlegt, ob ich mal mitgehen sollte, genau genommen gehörte
es sich absolut nicht. Aber wenn man wie ich den ganzen Tag arbeiten muss,
keine Abwechslung und keine Freundinnen mehr hier hat, denkt man anders.
Albert, ein mordslanger, richtiger großer Junge, geleitete mich ritterlich hin.
Ein paar mal gingen wir, dann bekamen sie Befehl zum Abmarsch. Wir konnten nicht
verhindern, dass uns ihr Weggang Leid tat.
Nach einer
Woche wurde mir dann im Krankenhaus schonend mitgeteilt, dass Mutter wieder
nach Hause sollte. Ich war empört, weil ich den Grund dazu in unserer
Geldlosigkeit erblickte. Wie es mit Mutter gehen sollte, wussten wir beide
nicht, da sie niemals allein bleiben durfte und stets erregt war. Es war wirklich
schwer und ist es auch jetzt noch, besonders für Oma, die sich aber großartig
hält und den ganzen Haushalt zusammenhält, mit 83 Jahren!
Ich sorge für
die Außenpolitik, mache zwischendurch sämtliche Einkäufe und Besorgungen und
habe die Finanzen übernommen, bin also sozusagen Haushaltsvorstand. Jetzt, da
alles läuft, geht’s gut; aber wenn ich an die erste Zeit denke, als Mutter
innerhalb eines Tages nach Aachen sollte und (auch) bei mir die Entscheidung
über unser Schicksal lag, da wir ja dann ohne alles mit mussten - da wird mir
jetzt noch beklommen. /.../. Seit einigen Wochen tragen wir doch ein gelbes
Armbändchen (mir doch peinlich), werden aber nicht behelligt.
Kriegsende
Der Krieg ist
nun aus, der Schluss ist entsetzlich. Wir haben die Waffenstillstandsfeiern von
dieser Seite aus gesehen, natürlich sind wir keinen Schritt aus dem Haus
gegangen. Zwei Tage vor Himmelfahrt war der Waffenstillstand. Bei dem
einstündigen Friedensglockenläuten ging mir noch mal all das Entsetzliche durch
den Kopf, das der Krieg gebracht hatte, es krampfte mir das Herz zusammen. Das
Volk ist wirklich der Unschuldige, einzig Leidtragende Teil, wie haben wir das
verdient! Nun erleben wir den schändlichen Untergang der Halbgötter mit.
Hitlers Tod wurde von (Großadmiral, H.R.) Dönitz (von Hitler zu seinem
Nachfolger als Reichskanzler bestimmt, H.R.) bekannt gegeben, Goebbels
(Reichspropagandaminister, H.R.) hat sich mit Familie vergiftet, Himmler
(Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, H.R.) dito mit Zyankali im Augenblick
der Untersuchung, Göring (Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe,
H.R.) gefangen etc. So geht das fort, Konzentrationslager werden entdeckt,
/.../, es ist alles so entsetzlich widerlich, dass ich die letzten Wochen auch
nicht einmal Radio gehört habe, das Wichtigste wird immer schon erzählt. Immer
mehr Gefangene kommen nach hier oder in andere belgische Städte, jeder, der
über die Grenze kommt, wird eingelocht, strenge Urteile wurden über die
hiesigen Nazis gefällt, die Zeit lastet auf allen, auch den Siegern.
Vor einigen
Tagen, dem 23. Mai, bekamen wir eine sehr freudige Nachricht: Vater war bis zum
Einmarsch der Amerikaner in Solingen bei der Bank. Wie seelig waren wir! Er
lebt! Wenn es auch lange dauern wird bis zu einem Wiedersehen und vielleicht
noch viel Trübes dazwischen liegt, wir haben die Hoffnung, mit ihm einmal
wieder zusammenzukommen. Wie viel leichter ist alles, besonders für mich, denn
auf mir liegt auch Sorge. Man kann es noch kaum fassen. Unendlich oft habe ich
an ihn als Volkssturmmann (ab Oktober 1944 aus militärisch kaum ausgebildeten
Jugendlichen und alten Männern gebildetes letztes Aufgebot Adolf Hitlers, H.R.)
gedacht und mich innerlich für das Schlimmste bereit gemacht. Wo mag wohl unser
Gerhard sein? Mit der Entfernung und der Länge der Zeit wächst die Liebe zum
Quadrat und Kubik. Mutter ist ein kleines bisschen besser, aber nicht viel.
Verhaftungsgrund:
NS-Frauenschaftsmitglied
14. August.
Wieviel ist inzwischen geschehen! Das Schlimmste zuerst. Mutter wurde in Eupen
als Frauenschaftsmitglied verhaftet, trotz ihrer schweren Krankheit.
Herr H. in
Eupen war so freundlich, es uns einen halben Tag vorher mitzuteilen, sodass ich
schnell von Dr. K. ein ärztliches Attest über Mutters Zustand besorgen konnte.
Mittags, als
ich nach Hause kam, war sie schon abgeführt und zum Verhör zur
Gendarmeriekaserne gebracht worden. Mir blieb bald der Verstand stehen, denn
was würde sie in ihrer Verwirrung aussagen, welche 'Volksgenossen' mit hinein ziehen!
Oma und ich
versuchten sofort, sie wiederabzuholen, aber vergeblich; es wurde uns gesagt,
sie käme in ein Internierungslager, ich nahm an, Verviers oder Lüttich.
Es war der
verzweifeltste Augenblick, an den ich mich überhaupt erinnere, denn in diesem
Falle hätten wir sie nicht wiede rgesehen, bei ihrer geschwächten Konstitution.
Weinend ging ich nach Hause, Oma war gefasster. In Hetze musste sie ihr einen
Koffer packen; aber sie war schon nicht mehr in der Kaserne, sondern auf der
Heggenstraße. Von dort bis zur Schulstraße konnte ich noch zufällig mit ihr
gehen und hielt ihr immer wieder vor, dass sie doch krank sei. Sie war ganz
verstört, aber doch ruhig. Wieder nach Hause, Bettzeug holen. Dann zum Pfarrer,
bei dem die Fassung mich verließ und der mich wunderbar tröstete. Dann die Ärzte
abgeklappert, Dr. K. konnte nichts unternehmen, Dr. B. musste den neuen
Seelenhirten mitfeiern. Zwischendurch zum Spediteur, damit er wieder Möbel von
uns fortbrächte, da wir natürlich auch Folgen für uns fürchteten. Herrn H.
konnte ich auch nicht überreden, mit dem Auditeur zu sprechen, logisch. Sogar
zum Kommunistenführer ging ich, war natürlich nicht da, dazwischen mehrmals zu
Herrn B., der mir gar nicht helfen konnte. Wieder ins Tipo, wieder zu Dr. B.,
alles in einem Nachmittag. Endergebnis negativ, am nächsten Morgen wollte Dr.
B. sie untersuchen. Alle paar Stunden lief ich zum Tipo und stellte mich gut
/.../ mit den Wärtern und den zahlreichen Wärterinnen, die ganz anständig
waren. /.../.
'Frechheit
siegt'
Nach einer
halben Woche unternahmen wir dann das Letztmögliche, wir richteten ein
Gesuch an den Auditeur Militaire persönlich. Da Herr L. sagte, dass nur
Frechheit noch helfen könne, beriefen wir uns auf seine persönliche
Verantwortung für die Folgen. Das war ein Wagnis, das verflixt schief gehen konnte;
aber es ging gut, genau nach einer Woche kam Lotte F. und bestellte mir, ich
sollte Mutter abholen.
So schnell bin
ich noch nie Rad gefahren. Die kalte Dusche folgte sogleich, man wollte
unbedingt aus mir herausbekommen, von wem ich das schon wüsste, ich wollte aber
auch die Wärterin nicht verraten. Sehr peinlich.
Übrigens hatte
ich in der Zwischenzeit Mutter auch einmal sprechen dürfen, durch zwei
Hühnerdrähtchen! Einige Lebensmittel hatte ich mit großer Intelligenz
versteckt, Eier in den Strümpfen, Butter und Käse in den Ärmchen meiner Jacke;
man durfte nichts mitnehmen, aber ich konnte doch etwas loswerden. Alle vier
Wochen wurde einem eine halbe Stunde zugebilligt, in der man dann wahrhaft
denkwürdige Gespräche führte. Mutter hungerte. Wir waren froh, als wir sie
wieder 'in Hausarrest' hatten, denn die Arbeit war Oma auch zuviel geworden.
Als Mutter gerade zwei Tage im Tipo gewesen war, wurden Reichsdeutsche
fortgebracht, über Antwerpen-Hamburg nach Deutschland! Wieder konnte ich in
fliegender Unruhe zum Tipo fahren; aber sie war noch da.
Als uns das
soweit gelungen war, wurde Oma, 83 Jahre alt, von zwei Gendarmen abgeholt zum
Auditeur, der aber nicht da war. Dort harrte ihrer eine Riesenstandpauke über
die Frechheit ihres Gesuches. Sie schob es aber auf mangelnde französische
Kenntnisse. Damit war die Sache abgetan. Von aller Aufregung war ich angenehm
schlank geworden und hatte natürlich für keine weltbewegenden Ereignisse Aug
und Ohr. Zwischendurch war Eupener Kirmes, eine verdammte Ironie. Das alles war
Anfang Juni.
Die
Konzentrationslagerhäftlinge kehren zurück
Durch Frau H.
und ihren couragierten Jungen erhielten wir auch Nachricht von Vater; die
Verbindung riss wieder ab, als der Junge geschnappt wurde. Allmählich ging es
wieder los mit dem Abtransport der Deutschen, d.h. die Vorbereitungen wurden
getroffen, wieder mussten wir eine Liste unseres Mobiliars aufstellen, um es
als Beamte frei zu bekommen, leider habe ich da einen Fehler gemacht, weil ich
alles angegeben habe. Aber immer muss man selbst entscheiden und alles, aber
auch alles mit sich selbst ausmachen. Niemand, wenn es nicht der Allernächste
ist, kann einem helfen. Fast jeden Tag war es anders, als die 'Buchenwalder'
(die aus den Konzentrationslagern befreiten Eupener, H.R.), kamen, war die
Stimmung ganz gegen die verbliebenen Reichsdeutschen und wir gaben alles auf;
dann hieß es, jeder bekäme 2 Zimmer, na schön. Durch all diese Manipulationen
ist mir der Besitz fast verhasst geworden, denn wir haben unsere Seele zu sehr
daran gehängt, uns dafür kaputt gemacht und vergessen, dass die Menschen die
Hauptsache sind und die Brocken zwar angenehm, aber auch ersetzbar sind.
Schnaps zur
Dämpfung der Beamtenaufmerksamkeit Aachen, den
23.9. (1945,H.R.): Ein ganzes Jahr ist um, warum läuft einem die Zeit so durch
die Finger /.../. Ich will den Bericht über dieses Jahr abschließen. Also nach
atemberaubenden, stets und täglich neuen Aufregungen in Eupen war es endlich so
weit, dass wir umziehen konnten, Vater hatte sogar eine Wohnung für uns und ich
bekam vom Kabelwerk einen Traktor mit Anhänger. Morgens um sieben Uhr am 7.
Juli erschien bereits der Zöllner, ein kleiner, korrekt aussehender Mann, der
kein Wort Deutsch konnte und mir eröffnete, dass außer unserem neuen
Herrenzimmer, Klavier (armer Vater!), Teppichen und allen Luxusgegenständen
auch das ganze Fremdenzimmer unerwartet seit dem Morgen beschlagnahmt sei. Ich
war natürlich betroffen; aber der Zöllner war froh, dass ich nicht jammerte und
ihn bestürmte. Wir gingen dann gemeinsam zu L’s und zum Herrn Dr. H. um die
dort stehenden, sequestierten Möbel zu beaugenscheinigen, alles auf
Französisch! Ich war ausnahmsweise mal ganz stolz, dass ich den ganzen Morgen
mit ihm parlieren konnte. Bis Mittag war der ganze Krempel aufgeladen, ab und
zu kredenzte ich zur Anfeuerung der Lebensgeister, beziehungsweise zur Dämpfung
der Beamtenaufmerksamkeit Schnaps, Flasche 500 frs!
So wurde die
Nähmaschine und Gerhards Fahrrad in Bruchstücken raufgehoben. An den Vortagen
hatten wir auch, so gut es ging, die beschlagnahmten Sachen gegen ältere
ausgetauscht. Endlich waren wir so weit, dass die Plane festgezurrt wurde,
viele kleine Sachen blieben aus Platzmangel da. Ich hatte auch noch etwas Geld,
was ich mitnehmen wollte und im letzten Moment versteckte. Der Zöllner
flüsterte, ich möchte viel Brot und Tabak für den Papa mitnehmen! So hatte es
sich doch gelohnt, dass ich ihn ein bisschen hofiert und wie eine angesehene
Persönlichkeit behandelt hatte. Mutter war natürlich vollständig aufgelöst.
Vorne oben auf den Möbeln wurde uns ein Prachtsitz hergerichtet, Oma kam neben
den Chauffeur. Die treuen, guten L's Kinder versprachen, die Brocken zu
sammeln, sie waren die Letzten, die wir in Eupen sahen. Ein stoischer,
belgischer Soldat fuhr als Wache mit, Gewehr auf den Knien. Keine Kiste war
durchwühlt worden, wir hätten Zentner mitnehmen können, aber dazu waren wir zu
dumm und zu ängstlich. Die Straße war entsetzlich schlecht und ausgefahren, ich
fürchtete dauernd einen Achsenbruch bei der schweren Ladung. Am Köpfchen wurden
nur die Pässe kontrolliert, sonst blieben wir unbehelligt.
Als wir über
die Grenze fuhren, atmeten wir beiden tief auf, wieder in Deutschland! Wenn wir
auch wussten, dass uns Hunger und Elend erwarteten, so würden wir doch nicht
immer derartige Aufregungen haben und mit Vater im eigenen Heim wieder
Zusammensein! Nur Mutter weinte leise vor sich hin, sie wäre gern geblieben,
Eupen an sich war ja auch wunderbar schön und ist mir sehr ans Herz gewachsen.
Rechts und
links von der Straße lagen alle die gesprengten Bunker, die Schlag- und
Bombenlöcher wurden immer gefährlicher.
Alltag in
Aachen im Sommer 1945
So fuhren wir
in die Trümmer von Aachen ein. Vor dem etwas beschädigten Haus Eifelstraße 45
stand der Vater in einem Monteuranzug. Der Moment, den wir monatelang herbeigesehnt hatten, war da. Vater sah ganz gut
aus, im Gegensatz zu Herrn H. Die Herren von der Bank halfen freundlicherweise
und wir hatten in Rekordzeit die Sachen unter Dach und Fach, wüst durcheinander
in der kleinen Wohnung. Ein Zimmer stand voll bis unter die Decke mit Sachen
unserer Vorgänger, die sich zufällig am anderen Tag früh einfanden, nach
fünftägiger Reise. So hatten wir Glück, dass wir schon drin waren. Langsam
wurde es besser und man konnte schon zwischen den Möbeln durchgehen. Vater war
noch glücklicher als wir über den eigenen Herd, er war die ganze Zeit ja von
einem Ort zum anderen gezogen und immer nur geduldet gewesen.
Als erstes
mussten wir nun all die Formalitäten erledigen, denn Tausende strömten nach
Aachen zurück und wurden registriert. Vater stellte sich von fünf bis sieben
Uhr früh an, dann kam ich. Durch Schummelei ergatterte ich auch für Oma und
Mutter ein Nümmerchen, sodass ihnen das stundenlange Stehen erspart blieb. Das
dauerte also von fünf bis zwölf!
Nachmittags
beim Arbeitsamt pfuschte ich auch die beiden mit durch. Am andern Morgen gings
weiter, erst zur Polizei, dann, als letzte Station, zur Lebensmittelkartenstelle.
Gut, dass ich nicht auch noch zum Wohnungsamt musste!
Nun hieß es,
für Lebensmittel anstehen, von Morgens bis Mittags, von Mittags bis Abends, für
jedes Brot, für jede 62,5 g Fett extra. Ich war verzweifelt, sollte das so
weitergehen? So schwierig hatte ich es mir nicht vorgestellt. Aber es wurde
immer besser, allmählich machten immer mehr Geschäfte auf, ja, die Ladeninhaber
wurden sogar schon freundlich. Für Gemüse (einmal in zwei Wochen), Fisch,
Kartoffeln muss man auch jetzt noch jedes Mal einen Morgen opfern.
So lebten wir
uns ein, kloppten die Fenster mit Pappdeckel zu und brachten sehr, sehr langsam
Ordnung in das Chaos. /.../ Eines Mittags kam Vater nach Hause und fragte, ob
es noch für einen Kumpel reichte? Und es erschien Onkel Kurt, sehr freudig
begrüßt, obwohl ich ihn im ersten Moment in seiner jugendlichen Schlankheit
nicht erkannte.