Grenzgeschichte DG - Autonome Hochschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft

 

 

Netty Drooghaag aus Gemmenich 28.08.1919 - 2003 

"Sie gehen in das Konzentrationslager Ravensbrück für Frauen"

von Herbert Ruland

Artikel erschienen in "Zwischen Hammer und Amboss. Eupen, Malmedy, St. Vith und die "zehn Gemeinden" von 1939-1945. Erfahrungen einer Grenzbevölkerung", Grenz-Echo Verlag GEV, Eupen 1996


Gemmenich um die Jahrhundertwende: ein kleiner und beschaulicher belgischer Flecken am „Vierländereck“ zu Deutschland, den Niederlanden und zum gerade einmal 343 Hektar „große“ Gebiet von Neutral Moresnet. Die Einwohner leben von der Landwirtschaft, von der Arbeit in den Galmeibergwerken in Bleyberg und Kelmis und insbesondere von Tätigkeiten im Baugewerbe im Aachener Raum. Im August 1914 aber nimmt das friedliche Leben ein jähes Ende.


Des Kaisers Soldaten

Des deutschen Kaisers Truppen überfallen auch das neutrale Belgien. Gemmenich wird bereits am 4. August 1914 besetzt. Um die belgische Bevölkerung einzuschüchtern und um jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken, kommt es in den ersten Wochen zu schlimmen deutschen Kriegsverbrechen. Zivilpersonen werden aus nichtigem Anlass als Geiseln genommen und oftmals ermordet. Bekannt sind die Ereignisse in Löwen, wo nicht nur die bedeutende Bibliothek der Universität brannte, sondern wo auch über 200 Personen standrechtlich erschossen wurden. In Dinant veranstalteten die Deutschen ein wahres Gemetzel. Von 6000 Einwohnern wurden über 600 als Geiseln erschossen, darunter Säuglinge und Greise. Auch in Gemmenich waren in den ersten Kriegstagen Zivilpersonen arretiert worden. Am 6. August wurde Joseph Beuven erschossen, sein Haus auf dem Place Communale bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Vor lauter Angst flüchtet nunmehr fast die gesamte Gemmenicher Bevölkerung in die benachbarten Niederlande. Erst als es einige Wochen lang ruhig bleibt, kehren nach und nach die Leute aus dem Nachbarstaat zurück.
Trotz aller deutschen Einschüchterungsversuche fühlen sich die allermeisten Gemmenicher weiter als überzeugte belgische Patrioten. Viele Männer versuchen über die Niederlande hinter die Front in Flandern zu kommen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Doch die Besatzer bleiben nicht untätig: vom „Vierländereck“, eben hier bei Gemmenich, bis hinunter zur Küste wird ein Elektrozaun errichtet, der die Flucht für belgische Freiwillige unmöglich machen soll. Und dennoch schaffen es viele. Während junge Belgierinnen mit den zumeist älteren deutschen Landsturmmännem flirten, die die Grenze bewachen, wird der Zaun in vielfältiger Art überwunden. So dienen z.B. Butterfässer, aus denen der Boden entfernt wurde und die zwischen die Drähte geschoben werden, als lebensrettende Fluchtmöglichkeit. Aber viele Leute sterben jämmerlich zwischen den Hochspannungsdrähten.

Am 11. November 1918 tritt dann der Waffenstillstand in Kraft: Deutschland muss u.a. binnen kurzem alle besetzten Gebiete räumen. Auch Gemmenich wird wieder frei. Doch es sind nicht mehr des Kaisers Soldaten, die abziehen; der hat sich vor der irdischen Gerechtigkeit aus dem Land gestohlen und flieht dorthin, wohin weder Belgier noch Deutsche im Krieg offiziell durften: in die Niederlande!

Gabrielle Petit

Nur ein Jahr später, am 28.8.1919, wird Netty Bütz, nur wenige Hundert Meter vom nunmehrigen „Dreiländereck“, geboren: das „Neutrale Gebiet“ von Moresnet existiert nicht mehr, sondern gehört nunmehr ebenso wie die bisherigen preußischen Landkreise Eupen und Malmedy zu Belgien. Bald kennt das aufgeweckte junge Mädchen jeden Baum und Strauch auf der belgischen und niederländischen Seite der Grenze - deutschen Boden betreten auch die Kinder nie, dort ist es ihnen unheimlich. Schon frühzeitig bekommt Netty aus Erzählungen von Erwachsenen mit, was sich hier nur wenige Jahre zuvor abgespielt hat. In vielen Häusern sieht sie Fotografien, die die im Weltkrieg schrecklich zerstörten flämischen Städte zeigen. Und als sie dann in der Schule von Gabrielle Petit erfährt, jener Brüsseler Widerstandskämpferin, die blutjung von den Deutschen ermordet wurde, da steht für sie fest, dass auch sie einmal eine große Patriotin werden möchte.

Pierre

Nach der Volksschule arbeitet Netty wie viele Mädchen aus der Gegend im Haushalt, zunächst in Antwerpen, später in Verviers. Die Weserstadt ist näher, da kann sie am Wochenende nach Hause und trifft u.a.den Nachbarsjungen Pierre, der später ihr Mann werden sollte.

Am 1. September 1939 überfällt Deutschland Polen und es zeichnet sich immer mehr ab, dass auch Belgien in den Krieg hineingezogen wird. Wie viele andere junge Männer auch, wird Pierre von Beruf Bauarbeiter und 1937/38 Soldat, im August 1939 mobilisiert und dient nunmehr beim 1. Linienregiment. Nach dem deutschen Überfall auf Belgien wird er am 24. Mai bei den sich auflösenden belgischen Truppen an der Lys gefangen genommen und landet im Kriegsgefangenenlager „Stalag 89“ in Görlitz.

Noch heute besitzt Pierre einen aus Pferdehaar kunstvoll geflochtenen Ring, den ein geschickter polnischer Mitgefangener fabrizierte. Aus den Resten einer Zahnbürste gefertigt, finden sich vorne die Buchstaben N für Netty und P für Pierre, denn eigentlich wollten die beiden am 17. August 1940 heiraten!

Eine Reise zu Fuß von Verviers nach Dünkirchen und zurück

Netty erlebt den deutschen Überfall am 10. Mai in Verviers, gemeinsam mit ihrer Schwester. Die Herrschaften sind weg, und überall herrscht Totenstille. Ihre Schwester überredet sie schließlich, auf der Straße nachzusehen, was los ist. Doch Verviers ist eine Gespensterstadt, fast die gesamte Einwohnerschaft ist auf der Flucht. Auch Netty und ihre Schwester ziehen los. Im endlosen Flüchtlingstreck geht es zu Fuß bis nach Dünkirchen. In dem allgemein herrschenden Chaos begegnen viele Franzosen den Belgiern nicht eben freundlich. Vielfach hört Netty Vorwürfe, dass die belgische Armee den vorrückenden Deutschen zu wenig Widerstand geleistet und zu schnell kapituliert hätte, ja sie werden sogar als „Boches du Nord“ beschimpft. In Dünkirchen geraten die beiden jungen Frauen in die zurück weichenden britischen Truppen und beschließen, ebenfalls nach England zu gehen. Es gelingt ihnen auch, auf ein Schiff zu kommen, doch bald heißt es, dass alle Zivilpersonen es umgehend verlassen müssen. Kaum an Land, ertönen Sirenen. Deutsche Sturzkampfbomber finden an Land und auf dem Wasser reichliche Beute. Netty und ihre Schwester überstehen den Angriff in einem Unterstand. Als es ruhiger wird, krabbeln die beiden nach draußen: auf dem Meer sehen sie das Schiff, auf dem sie sich vor kurzer Zeit noch befanden. Von deutschen Bomben schwer getroffen, ist es im Sinken begriffen...
Es geht zu Fuß zurück in die Heimat.

Neue Verhältnisse

In Gemmenich angekommen, muss Netty feststellen, dass ihr Dorf nunmehr laut "Führerbefehl“ zu  Deutschland gehört und sie selbst „Deutsche auf Widerruf“ ist. Wo Pierre ist, weiß sie zunächst nicht. Später gibt es Kontakt, und am 30. September 1940 kehrt Pierre endlich aus der Gefangenschaft zurück.
Hausmädchen sind nunmehr nicht mehr gefragt. Auch die Gemmenicher „Beutedeutschen“ müssen sich für den Arbeitseinsatz im „Großdeutschen Reich“ zur Verfügung stellen: Netty landet schließlich bei der Aktienspinnerei in der Viktoriastraße in Aachen. Pierre, der am 5. Juli 1941 ihr Mann wird, „vermittelt“ das Eupener Arbeitsamt zunächst in die Zuckerfabrik nach Düren. Schließlich bekommt er eine Stelle in der Waggonfabrik Talbot in Aachen, wo es ihm nach eigenen Angaben ganz gut gelingt, den Krieg zu überstehen.

NSDAP

Auch die Nazi-Partei versucht in den annektierten altbelgischen Dörfern Staat zu machen. Im Gegensatz zu den früher deutschen Kreisen Eupen und Malmedy haben hier aber nur ganz wenige Einwohner etwas mit den Nazis am Hut, denn schließlich fühlt man sich auch weiter als gute Belgier. Eingeschriebene Mitglieder der Partei gibt es nur ganz wenige. Laden die Nazis zu einer Veranstaltung ein, regt sich in Gemmenich kaum Interesse. Einmal möchte die Partei aus jeder ortsansässigen Familie ein Mitglied im Saal Schifflers sehen. Nettys Organisationstalent ist es zu verdanken, dass dort nur Frauen und dazu in ihren schmutzigsten Schürzen erscheinen. In der eigentlichen Versammlung benehmen sich dann die Anwesenden so undiszipliniert, dass diese bald darauf geschlossen werden muss. Ein neuer Termin wird anberaumt, und jetzt will die Partei nur noch Männer sehen. Wieder gibt es Absprachen, und Netty trägt zu deren Verbreitung bei. Mit „Shag“ (Kautabak) im Mund marschieren die Männer zu Schifflers. Vor dem Eingang ist eine große Hakenkreuzfahne angebracht. Mit lautem Rülpsen und Spucken landet der Mundinhalt vor der Fahne. Auch diese Veranstaltung ist nur von kurzer Dauer, und von weiteren öffentlichen Einladungen an die Gemmenicher Bevölkerung wird nunmehr abgesehen.

Fluchthilfe

Netty muss in Aachen Früh- und Spätschicht verrichten. Ihr Weg zur Arbeit führt sie mit dem Fahrrad über das Dreiländereck. Auf einem deutschen Bauernhof, ganz in Grenznähe, arbeiten französische Kriegsgefangene. Die sind hocherfreut, dass die junge Frau sie in ihrer Muttersprache grüßt. So entstehen schnell Kontakte. Netty wird von der Bauernfamilie gefragt, ob sie ab und an übersetzen kann. Natürlich gibt sie nicht alles wieder, was sie hört, denn die Gefangenen fragen, nachdem sie Vertrauen zu Netty gefasst haben, nach Fluchtmöglichkeiten. Wenig später wird Netty auf ihrem Weg von der Arbeit im Wald von Franzosen angesprochen, die zurück in ihre Heimat wollen. Von nun an hilft sie Menschen in Montzen über die Grenze zu kommen.

In der Aktienspinnerei

Nettys Arbeit ist beschwerlich und wird schlecht bezahlt: 35 Pfennig. die Stunde; einmal ist sie es satt und lässt sich krankschreiben. Im Betrieb wirft man ihr „Arbeitsverweigerung“ vor, und sie wird zu einer Strafe von 40 Mark verdonnert! Außer Netty sind auch noch andere Belgierinnen in diesem Betrieb zur Arbeit verpflichtet. Das Verhältnis zu den dort beschäftigten Aachenerinnen ist nicht immer das Beste; viele von den Einheimischen schauen hochnäsig auf die Belgierinnen herab. Einmal kommt es zum Streit, als Netty erzählt, dass sie und die anderen Zivilisten auf ihrer Flucht nach Frankreich von deutschen Fliegern beschossen wurden. So etwas würde die deutsche Luftwaffe nicht tun, behaupten die Aachenerinnen und zeigen Netty bei der Betriebsleitung an. Auch hier vertritt sie ihren Standpunkt, begreift aber schließlich den „Wink mit dem Zaunpfahl“: wenn man in Aachen sagen würde, es wären englische Flieger gewesen, die die Flüchtenden beschossen hätten, dann wären das auch Engländer....

Nettys deutsche Kolleginnen behaupteten auch, die englische Luftwaffe werde es niemals schaffen, Aachen ernsthaft zu bombardieren. Nach dem ersten schweren Angriff auf die Stadt im Frühjahr 1941 sind die Bombeneinschläge bis nach Gemmenich zu hören und der Wind weht verbranntes Papier herüber. „Für uns war das Musik, wir haben getanzt, denn es waren ja unsere Feinde, die da bombardiert wurden“, erinnert sich Netty.

Verhaftung

Auch in der Aktienspinnerei arbeiten Kriegsgefangene und Fremdarbeiter. Netty besorgt Zivilkleider, um diesen Menschen zur Flucht zu verhelfen. Im Juni 1942 will Netty Franzosen helfen, die mit der Ausbesserung des Fabrikdachs beschäftigt sind. Ein Mann aus Kelmis beobachtet sie dabei und zeigt sie an.
Als dieser Mensch 1945 in Hamburg im Radio hört, dass Netty das Konzentrationslager überlebt hat, bringt er sich um.

Am 24. Juni wird Netty von der Geheimen Staatspolizei auf der Arbeit verhaftet. Zu Fuß geht es zu deren Folterräumen im Regierungspräsidium auf der Theaterstraße. Bereits das erste Verhör ist eine schreckliche Tortur. Netty wird in das Gefängnis auf dem Adalbertsteinweg eingeliefert und immer wieder von der Gestapo fürchterlich misshandelt.

Abtransport

Am 28. August 1942 wird Netty 23 Jahre, und ihr Mann darf sie noch einmal besuchen. Schon einen Tag später kommt die junge Frau, ohne dass man ihr sagt, wohin es geht und ohne Anklageerhebung auf einen Transport. Im Hauptbahnhof steckt man sie in einen engen Gefangenenwagen und es geht zum Westbahnhof, wo der Zug länger hält. Netty gelingt es, sich an dem kleinen Guckloch hochzuziehen und nach draußen zu sehen. Auf dem gegenüberliegenden Gleis steht der Personenzug nach Gemmenich! Es ist Samstagnachmittag, und die Leute aus ihrem Heimatdorf strömen nach Hause. Sie erkennt viele Bekannte und versucht sich bemerkbar zu machen, doch keiner bekommt etwas mit. Netty verfällt in einen Weinkrampf. Der Zug fährt los, in Düsseldorf geht es über den Rhein, Netty ist völlig verzweifelt und glaubt nun nicht mehr daran, noch jemals lebend nach Hause zu kommen.

„Sie gehen in ein Konzentrationslager für Frauen“

Über Hannover kommt Netty nach Berlin in das Gefängnis am Alexanderplatz. Wieder einige Tage des ängstlichen Wartens, der Ungewissheit, wie es weitergeht. Am 4. September kommt sie mit anderen Frauen wieder auf einen Transport. Nach einiger Zeit hält der Zug. Die Frauen müssen antreten, und ein Wachmann erklärt, in durchaus Anteil nehmendem Ton: 'Sie gehen in das Konzentrationslager Ravensbrück für Frauen. Dort gibt es viel Arbeit und wenig zu Essen. Arbeitet so viel ihr könnt, dann habt ihr vielleicht das Glück und kommt noch einmal lebend nach Hause'!

Ravensbrück

Das ehemalige Frauenkonzentrationslager Ravensbrück liegt im heutigen deutschen Bundesland Brandenburg. Es wurde in den Jahren 1938/39 insbesondere von männlichen Häftlingen des Konzentrationslagers Sachsenhausen, aber auch von Frauen aus dem KZ Lichtenberg errichtet. Hier wurden weibliche Häftlinge inhaftiert, für die entweder aus rassenideologischen oder aus politischen und religiösen Gründen kein Platz im Nazi-Staat war.
Waren es zunächst vor allem deutsche Antifaschistinnen, die in Ravensbrück gequält wurden, so kamen die Insassinnen später aus allen von den Nazis überfallenen Ländern.

Prügelstrafe

Beim Eintritt in das Lager hat Netty ein Erlebnis, das sich ihr für immer unauslöschlich einprägen sollte. Sie vernimmt infernalische Schreie, die sich so anhören, dass sie nie und nimmer von Menschen stammen können. Doch es sind die Schmerzensschreie von der SS gefolterter Frauen. 1940 war auch offiziell die Prügelstrafe an den weiblichen Häftlingen in Ravensbrück eingeführt worden, die für geringste „Vergehen“ angewandt wurde. Sie fanden im Zellenbau statt, der von den Häftlingen Bunker genannt wurde. Mit dem Eintritt in das Lager hört auch für Netty für Jahre das eigentliche Menschsein auf. Die Frauen verlieren ihre Haare, und der Name wird durch eine Nummer ersetzt. An Kleidung bekommen die Neuankömmlinge dünne Sträflingstracht, und zunächst müssen sie auch barfuss laufen: Holzpantinen gibt es erst viel später. Das rote Dreieck an Nettys Montur weist aus, dass sie eine politische Gefangene ist.

Arbeit in der Schneiderei

Die Konzentrationslager in Deutschland waren vornehmlich Arbeitslager. Die SS beutete die Häftlinge selber aus oder „vermietete“ sie an Privatfirmen. So errichtete etwa der Rüstungskonzern Siemens & Halske bis 1945 dreißig Werkhallen rund um Ravensbrück. Netty kommt in die Schneiderei. Hier muss sie im Akkord Kragenspiegel an Uniformmäntel annähen. Für diese Tätigkeit steht den Häftlingen eine Nadel für die Nähmaschine pro Woche zu. Ängstlich hoffen die Frauen, dass keine Nadel bricht. Dann müssen sie zur SS-Aufseherin und um eine neue Nadel „bitten“. Dieser „Wunsch“ wird dann bestenfalls mit schlimmsten Verwünschungen kommentiert. Netty bekommt dabei einmal solche Tritte, dass sie hinterrücks eine steile Treppe hinunterfällt.
Derartig eingeschüchtert, versuchen die Frauen dann, die neuen Nadeln einzusetzen. Oft passiert es, dass dann die Nadeln schon bei der Arbeitsaufnahme wieder abbrechen, und dann heißt es wieder zur Aufseherin zu gehen. Die Frauen leben unter der ständigen Angst, der Sabotage bezichtigt zu werden und dann ihr Leben zu verlieren. Wie überall im Lager, hängt auch auf der Arbeit das Leben an einem seidenen Faden. Die Gedanken der Frauen kreisen darum, wie sie bloß möglichst wenig auffallen und die Arbeit schaffe. Dabei kommen aber auch ständig Gedanken, wie sie den Nazis Schaden bereiten könnten. Netty näht zu diesem Zweck schon einmal Ärmel an den Uniformen zu. Besonderes Vergnügen bereitet es ihr aber, Läuse zu sammeln und diese dann in Hosen einzunähen

„Arbeite soviel du kannst, sonst gehst du ins Gas"

Auch Frauen, die fleißig arbeiten und wenig Nadeln zerbrechen, sind hier vor der Mordlust entfesselter SS-Banditen nicht sicher. Einige SS-Chargen machen sich einen Spaß daraus, völlig verängstigte Frauen willkürlich von ihrem Arbeitsplatz wegzuzerren, sie dann brutal zusammenzuschlagen oder sogar vor allen Augen umzubringen. Netty trifft Frauen, auch belgische Kameradinnen, die fest der Überzeugung sind, hier nicht arbeiten zu brauchen. Eine Frau beruft sich Netty gegenüber auf die Genfer Konvention des Roten Kreuzes, die einen solchen Einsatz verbieten würde. Netty weiß, dass solche Vereinbarungen hier nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben sind und warnt die Frau: „Arbeite soviel du kannst, sonst gehst Du ins Gas."
Auch Frauen, die ihre Tätigkeit nur nachlässig verrichten, warnt Netty in diesem Sinn. Diese Aussagen sind alles andere als hohle Phrasen. Als in der Kleiderkammer die Wäsche gerade erst abtransportierter Frauen wieder ankommt, spricht sich bald herum, dass diese armen Menschen in mobilen Vergasungswagen ermordet wurden. Im August 1943 wird dann auf dem Konzentrationslagergelände ein eigenes Krematorium fertig gestellt, in dem die SS die Toten verbrennen lässt. Die Asche der Toten lässt die SS in den nahen Schwedtsee kippen!

An der Jahreswende 1944/45 wird dann das Jugend-KZ in der nahen Uckermark teilweise geräumt und als Selektions- und Vernichtungslager für Ravensbrück genutzt. Eine Baracke wird zur Gaskammer umgerüstet. Noch bis in das späte Frühjahr 1945 hinein werden hier etwa 5000-6000 Frauen ermordet.
Diese Fakten räumen auch mit dem gängigen Urteil auf, dass die systematische Tötung durch Gas nur in den Vernichtungslagern im Osten angewandt wurde und nicht in den Konzentrationslagern in Deutschland.

Pommes Frites und Rosen

Netty ist beliebt im Lager. Sie spricht und schreibt Deutsch. Das können aber nur die allerwenigsten Mitgefangenen; sie beherrschen nur die schlimmen Schimpfwörter des Wachpersonals: „alte Sau“, „blöde Kuh“, „Flintenweib“, etc.
Netty schreibt Briefe für Mitgefangene, denn diese dürfen nur in der Sprache der verhassten Peiniger abgefasst werden. Überhaupt ist Netty ein Sprachentalent, sie fühlt sich insbesondere zu den Polen und Russinnen hingezogen und kann sich schon bald mit diesen Frauen einigermaßen verständlich machen. Netty betont, dass gerade unter den Polinnen viele waren, die für die bestialischen medizinischen Experimente der Nazis ausgesucht wurden.

Die Frauen versuchen gegenseitig durch kleine Aufmerksamkeiten das schreckliche Lagerleben etwas aufzuhellen. In der Schneiderei werden Nadelschachteln entwendet, ein gefährliches Unternehmen. Auch diese kleinen Kartons sind Rohstoff, ihr Verschwindenlassen bedeutet Sabotage. In den Kleidern, die zur Aufarbeitung in Ravensbrück ankommen und zumeist von Menschen stammten, die in den Vernichtungslagern im Osten ermordet wurden, finden sich schon einmal die Reste von Buntstiften.

So bekommt Netty eine mit russischen Wünschen versehene „Karte“ zu Weihnachten, einmal gibt es rote Rosen aus Karton.

Wenn das Lageressen und die wenigen Paketchen, die die ausländischen Häftlinge schließlich beziehen können, nur soeben und oftmals auch nicht einmal das nackte Überleben garantieren, so kann doch von den Lieblingsspeisen zu Hause geträumt werden. Und so hat sich auch Netty sehr gefreut, als sie eines Tages einen Deckel mit Pommes Frites aus Pappe erhielt.

Netty versteckt diese Liebesgaben über ihrer Pritsche und kann sie unentdeckt bei ihrer Befreiung aus dem Lager mitnehmen. Sie besitzt sie heute noch und behütet sie wie einen Reliquienschatz.




Liebe

Ein Überleben unter diesen Verhältnissen ist kaum möglich. Neben Folter, Hunger, Krankheiten, Kräfteverfall können willkürliche Aktionen der Wachmannschaften dem Leben der so arg geschundenen Frauen ein Ende bereiten.
Es ist die große Liebe zu ihrem Mann Pierre, die Netty am Leben hält. Oft hält sie in ihrem Kopf lange Gespräche mit ihm: Wenn die Wolken von Westen kommen, stellt sie sich vor, dass auch Pierre vor einigen Stunden unter ihnen gestanden hat. Die Briefe, die die beiden sich selten genug gegenseitig schreiben dürfen, unterliegen der Zensur und enthalten daher fast immer nur Unverbindliches. Netty schreibt ihre Briefe übrigens immer nach Gemmenich in die Vaalserstraße und nicht in die Hermann Göring Straße, wie es hier offiziell seit der Annexion heißt. Auch dies ein Akt individuellen Widerstands!

Die Kinder

Viel beschäftigt Netty heute noch das Schicksal der Kinder in Ravensbrück. Mindestens 600 Kinder wurden dort geboren und fast tausend dorthin deportiert. Neugeborene wurden nach Möglichkeit versteckt aus Angst, dass sie von den Wachmannschaften ermordet wurden. Auch ein fünfjähriges Mädchen mit Namen Stella, das beide Elternteile verloren hat, überlebt so. Eine russische Gefangene nimmt sie mit nach Leningrad und adoptiert sie dort. Netty hat noch ein Photo von ihr aus den frühen siebziger Jahren. Anlässlich der Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung trifft Netty auf sie, doch Stella erkennt sie nicht mehr.

Eines der fürchterlichsten Erlebnisse, das Netty hatte, war der Mord an einem kleinen Zigeunerkind. Der Junge wird auf der Lagerstraße unwirsch von einem SS-Mann angemacht. Der versteht nicht und fragt: „Was hast du gesagt, Onkel?" Das bringt diesen Teufel erst Recht in Rage, und er brüllt: „Dieser Untermensch hat Onkel zu mir gesagt." Er tritt und schlägt so lange auf das arme Kind ein, bis nur noch ein Haufen Gedärm und Knochen übrig bleibt...

Die deutschen Frauen

In Gesprächen betont Netty immer wieder, dass auch viele deutsche Frauen in Ravensbrück ihr Schicksal mit ihren ausländischen Leidensgenossinnen teilen mussten. Sie will damit herausheben, dass es auch in Deutschland Widerstand gegen die Nazis gegeben hat. Viele dieser Frauen waren schon seit etlichen Jahren aus Gründen politischer, rassistischer oder religiöser Verfolgung eingesperrt, darunter etwa auch die Frau von Ernst Thälmann, dem Führer der deutschen Kommunisten, an die Netty sich noch gut erinnern kann. Viele deutsche Frauen saßen auch als so genannte „Polenliebchen“ in Ravensbrück ein. Es war nicht nur ein Liebesverhältnis mit einem polnischen Zwangsarbeiter, das eine Frau in das Konzentrationslager bringen konnte. Oft waren es schon geringe Hilfsdienste diesen häufig völlig verwahrlosten Menschen gegenüber, etwa das Zustecken eines Stücks Seife oder aber das Waschen der Kleidung.

Aktion Bernadotte

Im April 1945 kann der baldige und vollständige Zusammenbruch des Dritten Reiches nur noch eine Frage von Tagen, höchstens weniger Wochen sein. Im letzten Augenblick versuchen noch einige der übelsten Nazi-Aktivisten, durch Verhandlungsangebote gegenüber den Westallierten ihr schäbiges Leben zu retten. Seit Anfang des Jahres 1945 steht der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler in Kontakt zu dem schwedischen Diplomaten Graf Bernadotte. Himmler will sich durch die Übergabe von KZ-Häftlingen an die Schweden in ein günstigeres Licht stellen. So kommen in den letzten Kriegstagen insgesamt 19.000 Menschen insbesondere aus den Benelux-Staaten, aus Frankreich, aus Skandinavien und Polen frei, darunter auch 7500 Insassinnen von Ravensbrück.

Befreiung

Am 24. April 1945, sechs Tage, bevor die Russen Ravensbrück mit nur noch 2000 kranken und haftunfähigen Insassen - in der SS-Sprache „Schmuckstücke“ - befreien, heißt es für Netty und andere Leidensgefährtinnen, draußen vor dem Lager antreten. Es passiert zunächst nichts, dann kommen weiße Busse des schwedischen Roten Kreuzes, die die Frauen aufnehmen. Im allgemeinen Chaos der nach Westen flutenden Flüchtlingstrecks und sich auflösender Wehrmachtsteile geht die Fahrt Richtung Lübeck.  Zu  allem  Übel  wird  der Transport zwischendurch noch bombardiert, und viele Frauen, die sich schon in Sicherheit wähnten, verlieren ihr Leben. Über die dänische Grenze gebracht, erreichen die Frauen schließlich mit Bus und Schiff am 27.4. Malmö in Schweden.
Wie ihre Leidensgenossinnen auch, besteht Netty nur noch aus Haut und Knochen; sie wiegt noch 41 Kilogramm. Hier in Schweden lässt man den Frauen alle mögliche Hilfe zukommen und mästet sie regelrecht mit Haferflocken.

Nach Hause

Nettys Sorge gilt ihrem Mann. Wie wird er das Kriegsende überstanden haben? Schließlich erkundigt sie sich bei einer Kommission, wie es wohl bei ihr daheim aussehen möge. Als sie erklärt, dass sie von der Grenze kommt, teilt man ihr mit, dort habe die Rundstedt-Offensive stattgefunden und die SS habe keinen Stein auf dem anderen gelassen. „Wie alt ist dein Mann - 27 Jahre? Dann ist er tot!“
Nettys Mann lebt - und in Gemmenich wissen die Angehörigen längst, dass Netty in Schweden ist. Pierres Vater hatte die Namen der befreiten Belgierinnen im Radio gehört.
An Pierres Namenstag am 29. Juni kommt Netty mit dem Flugzeug in Brüssel an, und nur einen Tag später kann sich das überglückliche Paar in Gemmenich in die Arme fallen. „Jetzt will ich leben“, denkt Netty in diesem Augenblick.

Nachkrieg

Das schreckliche Unrecht, das Netty erlitten hat, wird sie niemals vergessen können. Ein Jahr nach der Befreiung bekommt sie unter schwierigen Umständen ihre Tochter. In den nachfolgenden Jahren engagiert sie sich in den Vereinigungen der Weltkriegsopfer. Sie kümmert sich aufopferungsvoll mit ihrem Mann um den Erhalt eines Gedenksteins am Dreiländereck, der einem belgischen Soldaten gewidmet ist, der dort Weihnachten 1944 auf eine Mine lief.




Seit einigen Jahren geht Netty auch in Schulen in ihrer Umgebung, um den Kindern von ihren Erlebnissen zu berichten und um sie zur Toleranz gegenüber anderen aufzufordern und vor den Werbungsversuchen rechter Parteien zu warnen. 1959 fährt sie zur Einweihung des Mahnmals an die Opfer des Konzentrationslagers erstmals wieder nach Ravensbrück. Bis Mitte der siebziger Jahre folgen mehrere Besuche nach. Das eigentliche Lager diente aber damals als sowjetische Kaserne. Besichtigt werden konnten nur das Krematorium, der „Bunker“ und das Ufer des Schwedtsees.


1995: die Befreiung jährt sich zum 50. Mal. Mit zwei Bussen fahren ehemalige belgische Lagerinsassinnen und ihre Angehörigen zu den vom Land Brandenburg organisierten Gedenkfeiern. Nach dem Abzug der Russen ergibt sich erstmals die Möglichkeit, das ganze Lager zu besichtigen. „Jetzt gehe ich mit!“ entschließt sich Netty, sie will „ihr“ Lager wieder sehen. Am Lagereingang hat sie das Gefühl, „als ob ich irgendwo in den Nebel hineingehen würde und wieder da wäre“. Doch vieles hat sich verändert: dicke Bäume am Appellplatz, Mauern, die früher nicht da waren, und auch die Räumlichkeiten der Schneiderei sind nicht zugänglich. „Das war nicht mehr 'ihr' Lager, aber in ihrem Lager ist sie immer“.

 

 

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EXTERNE AUFTRÄGE


Koordination der „Aktionstage Politische Bildung“


Demokratieerziehung in Brüssel


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in der „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research“


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft im pädagogischen Beirat des „Jüdischen Museums der Deportation und des Widerstandes in Mechelen“


Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft im Verwaltungsrat der Gedenkstätte Breendonk



 

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