„Wegen nicht arischer
Abstammung zurücktreten“
Berlin im Sommer 1934: Die
Nazis befinden sich in Deutschland seit einem guten Jahr an der Macht. Das
öffentliche Leben wird von ihrer Propaganda vollständig beherrscht. 1936
werden die Olympischen Spiele in Garmisch und in Berlin stattfinden. Dieses
sportliche Großereignis soll zu einer weltweiten Selbstdarstellung neuer
deutscher Größe werden. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, und so finden
bereits jetzt Sichtungswettkämpfe unter Sportlern statt, die den Ruhm des Dritten
Reiches bei der Olympiade erfolgreich mehren könnten.
An einem solchen Wettbewerb
nimmt auch der 1914 in Berlin geborene Turner Horst Naftaniel teil, der sich
Chancen auf den Turniergewinn oder zumindest auf eine gute Platzierung ausrechnen
kann. Reichssportführer von Tschammer und Osten persönlich gratuliert nach
Abschluss der Ausscheidungen den angetretenen Athleten, verteilt zusätzlich
Sportnadeln. Doch als schließlich auch der Name Naftaniel fällt, heißt es „wegen
nicht arischer Abstammung zurücktreten“. Horst erleidet einen Nervenzusammenbruch; für ihn steht
nunmehr endgültig fest, dass er Deutschland verfassen will.
Bereits ein
Jahr zuvor, am 7. Juni 1933, war das jüdische Lehrlingsheim, in dem Horst
damals lebte, von der SA besetzt worden. Lehrer und Schüler wurden dingfest gemacht und wegen angeblicher „kommunistischer
Umtriebe“ kurzerhand für einige Tage in das von der SA betriebene Konzentrationslager
Oranienburg-Brauerei transponiert!
Jetzt rast Horst nach Hause. Vor dem
Haus parkt eine schwere Harley Davidson, die dem Chef seines Bruders gehört.
Horst packt seine spätere Frau, die er 1937 heiraten wird, und ohne jedes
Gepäck geht es mit dem gestohlenen Motorrad in Richtung Aachen im Westen des
Deutschen Reiches.
Das
Hotel „Zum Siegfried“ in Aachen
Horst hat einen belgischen Bekannten in
der Maschinenfabrik Borsig, der ihm als Anlaufpunkt für die Flucht aus Deutschland
eine Adresse in Aachen mitgeteilt hatte: das Hotel „Zum Siegfried“ in der
Stiftstraße, das von den Brüdern Marquardt geführt wird. Ein kurioser Laden, in
dem er da mit seiner Lebensgefährtin absteigt: in der Kneipe im Parterre
verkehren prominente und weniger prominente Nazis, aber die Zimmer oben im Haus
sind voll gestopft mit jüdischen Flüchtlingen. Menschen aus Aachen und aus der
Eupener Gegend, teils professionelle Schmuggler, teils Menschenfreunde helfen
von hier aus den bedrängten Juden über die nahe Grenze nach Belgien oder
Holland.
Über
Holland
Horst will nach Belgien. Bereits vor
der Machtergreifung der Nazis hatte Horst einer kommunistischen Jugendgruppe
angehört, die sich 1933 aus Gründen der Tarnung den Namen „Deutsch Jüdische Jugendgemeinschaft“
zugelegt hatte. Zu den Aktivitäten der Gruppe gehörten u.a. ausgedehnte
Radtouren in den großen Ferien, so 1933 von Berlin nach Ostende. Die Gruppe
hatte damals in Belgien eine Menge Leute kennen gelernt, die sie von ihren
Idealen zu überzeugen suchte. Unter Horsts neuen Bekannten war auch der spätere
Eupener Polizeikommissar Van Zuyt…
Es waren diese bereits bestehenden
Kontakte, die Horst veranlassen, nunmehr nach Belgien zu gehen.
Die Flucht soll über Holland mit dem
Motorrad erfolgen. Im Affenzahn geht es über vorher bezeichnete Wege über die
Grenze, aber dennoch erhält seine Frau einen Streifschuss. In Antwerpen, wo er
sich zunächst illegal aufhält, verkauft er das Motorrad und erwirbt eine
Dauerwellenmaschine. Horst ist Friseur von Beruf. Von dem Geld, das er bei
reichen jüdischen Familien verdient, und von der finanziellen Unterstützung,
die er vom jüdischen Komitee erhält, kann er mehr als leben. Unter Aufwendung
nicht unerheblicher finanzieller Mittel gelingt es ihm dann schließlich, mit
Hilfe professioneller Schmuggler seine Mutter, die nach der Geburt des achten
von zwölf Kindern erblindete, sicher nach Belgien zu bringen...
Prinz
Charles
Durch Van Zuyt lernt Horst eine Menge
einflussreicher Leute kennen. Unter ihnen eines Tages in einem Brüsseler Homosexuellenlokal
in der Rue du Pont Neuf 24 auch den Prinzen und späteren Regenten Charles.
Horst erzählt ihm seine Geschichte und auch, dass er sich illegal in Belgien
aufhält. Durch seine weit reichenden Beziehungen kann ihm Charles eine falsche
Identitätskarte unter dem Namen René Wouters besorgen. Erst 1938 meldet sich
Horst auch unter seinem richtigen Namen an und besitzt somit nunmehr zwei
Identitäten. Als „Belgier“ nimmt Horst nun verschiedene politisch begründete „Aufträge“
an, die ihn u.a. in seine Heimatstadt Berlin führen.
Ausreise
nach Südamerika?
In Berlin hat er jedoch auch noch eine
persönliche Angelegenheit zu regeln. Verwandte versuchten damals, ihm die
Ausreise nach Paraguay zu ermöglichen. Eines Tages kann er in der
Reichshauptstadt einen Brief des paraguayischen Konsuls in Empfang nehmen, in
dem dieser ihm mitteilt, dass Horst sich mit der Einreise in das
südamerikanische Land beeilen möge, da der Zuzug für Juden bald gesperrt würde.
Geld sei von in Südamerika lebenden Verwandten bei der „Banco Agricol“ in
Asuncion eingezahlt worden. Er benötige aber noch ein Gesundheits- und ein polizeiliches Führungszeugnis, das
nicht älter als vier Wochen sein dürfe. Damit war für Horst und seine Frau Südamerika
verständlicherweise unerreichbar geworden.
Kriegsausbruch:
Internierung als „feindlicher“ Ausländer
In der Nacht zum 10. Mai 1940 greift
die deutsche Wehrmacht nicht nur Frankreich an, sondern überfallt auch die
neutralen Staaten Belgien, Holland und Luxemburg. In Antwerpen sind
großflächige Plakate zu sehen, die den König in Felduniform auf dem Pferd zeigen
und unter denen zu lesen ist: „Der Feind hat unser Land angegriffen“. Zu den
angeordneten Abwehrmaßnahmen gehört, dass alle „feindlichen“ Ausländer sich bei
der nächsten Gemeindeverwaltung zu melden haben.
Auch Horst kommt dieser Aufforderung
nach - und wird in ein Lager interniert! In diese Lager schaffte man
Einheimische, etwa wallonische Rexisten oder flämische Nationalisten, bei denen
man davon ausging, dass sie mit den Deutschen kollaborieren würden, aber auch
alle Ausländer, mit deren Staaten die Alliierten sich nunmehr im Kriegszustand
befanden. So entstand die tragische Situation, dass hier Nazis und Antinazis
und auch in Deutschland verfolgte Juden in ein und dasselbe Lager gesteckt
wurden. Mit dem Zusammenbruch des belgischen Widerstands wurden Horst und seine
Leidensgenossen bis nach St. Cyprien in Südfrankreich deportiert. Noch bevor
das Lager von den Franzosen an die vorrückenden Deutschen übergeben wird,
gelingt ihm tatsächlich mit einem Kameraden die Flucht. Nach vielen nächtlichen
Fußmärschen kommt Horst in das nunmehr von den Deutschen besetzte Antwerpen
zurück.
Die
deutsche Besetzung - die Familie taucht unter
Horst begreift den Ernst der Lage und
will sich und seine Familie in Sicherheit bringen. Im August 1939 hatte Horsts
Frau einen Sohn entbunden. Der wird zu zuverlässigen Leuten in Brüssel, die
dort ein Café betreiben, gebracht. Auf dem zuständigen Polizeirevier geben dann
die „neuen Eltern“ augenzwinkernd und erfolgreich zu Protokoll, man habe ihnen
ein Kind vor die Tür gelegt, das sie selbstverständlich behalten möchten. Der
Junge erhält die behördliche Eintragung und damit auch das Recht auf Lebensmittelzuteilungen.
Die neuen Eltern meinen es gut: das Kind wird sogar katholisch getauft und
bleibt es auch, als Horst es nach dem Krieg zurückholt. Horsts Frau wird bei
Bekannten in Beringen versteckt, er selbst taucht in dem bereits erwähnten
Homosexuellenlokal ab.
Bei einem Freund in Antwerpen baut
Horst einen Keller aus, in dem er die Mutter versteckt. Später wird die Mutter
entdeckt und man bringt sie nach Mechelen in die Dossin-Kaserne, von wo die
Transporte der in Belgien ansässigen Juden in die Vernichtungslager abgehen.
Nach Meinung eines SS-Unteroffiziers Boden aus Dresden lohne es sich nicht
mehr, die blinde alte Frau auf den weiten Transport zu schicken. Er erschießt sie hinterrücks an Ort und Stelle.
Auch die Ehegattin von Horst überlebt
das Naziregime nicht: sie verstirbt im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.
Politische
Arbeit und Verhaftung
Auch nach der Kapitulation der
belgischen Armee geht Horst seinen politischen Tätigkeiten weiter nach. Ein
Gang führt „René Wouters“ ins südlichste Frankreich in die Gegend von
Perpignan, wo er für viel Bestechungsgeld einen Gefangenen freikaufen kann.
Eine 23tägige, abenteuerliche Flucht aus dem unbesetzten Süden Frankreichs,
über die von den Deutschen schwer bewachte Demarkationslinie an der Somme,
führt die beiden wieder bis nach Belgien. Gut getarnt geht die politische
Arbeit gegen die Besatzung weiter. Auch die Beseitigung von Verrätern gehört
dazu.
Doch Horst verlässt sein Versteck nur,
wenn er gebraucht wird oder wenn er seine schmale Kost aufbessern will. In
seiner Nähe kann er sich gegen ein Losungswort unentgeltlich etwas Brot
besorgen. Bei einem dieser Ausflüge im Jahr 1943 wird er von einem Gestapomann
kontrolliert und anschließend festgenommen.
Im
Gestapokerker in der Avenue Louise
Nach der Festnahme wird Horst in das
Brüsseler Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in der Avenue
Louise in Brüssel verfrachtet. Mit fürchterlichen Schlägen versuchen flämische
SS-Leute aus ihm herauszubekommen, wo sich seine Frau und das Kind befinden.
Nachdem Horst beharrlich schweigt und er schließlich durch die Tortur auf einem
Ohr für sein Leben lang nahezu taub ist und „wie ein Schwein“ aussieht, gelangt
er per Fußtritt in einen Keller, wo noch eine Menge anderer Menschen ihres
ungewissen Schicksals harren. Von Brüssel wird auch Horst nach Mechelen in die
Dossin-Kaserne gebracht.
Als
Friseur in Auschwitz-Monowitz
Horst landet schließlich in Auschwitz,
heute geradezu Synonym für den von den Nazis planmäßig betriebenen,
millionenfachen, industriell organisierten Massenmord an Juden und anderen
rassisch und politisch verfolgten Menschen. Bekannt und berüchtigt ist das
System der Selektion bei der Ankunft der Menschen dort: Kranke, Kleinkinder,
alte und schwächliche Menschen werden zumeist sofort für die Gaskammern
bestimmt. An den Kräftigen will die SS noch verdienen. Sie werden, modern
ausgedrückt, an private Firmen „geleast“ und sollen sich selbst durch Arbeit
vernichten. Horst kommt in das Außenlager Auschwitz-Monowitz, einem privaten KZ
der IG-Farben. Dieser gewaltige deutsche Chemiekonzern, der auch das Gas
Zyklon-B für die Vernichtungsanlagen, nur wenige Kilometer entfernt, liefert,
stellt hier künstliches Benzin für die deutsche Rüstungsindustrie her.
Horst hat „großes Glück“, dass er von
Beruf Friseur ist: davon gibt es nur 8 im Lager bei 22.000 Gefangenen. Für die
Arbeit, die er hauptsächlich verrichten muss, hätte es keines ausgewiesenen
Fachmanns bedurft. Sie zeigt die ganze Perversion des NS-Systems: Die Menschen
aller Haare von Kopf bis Fuß zu entledigen. Diese Haare wurden dann gesammelt,
in Tüten und Säcke verpackt und dienten in der Rüstungsindustrie als Rohstoff
für die Herstellung von Dichtungen und Zeitzündern. Auch die SS-Schergen muss
Horst frisieren und rasieren, wobei er betont, dass er die am liebsten „unter
der Haut rasiert“ hätte. Für diese Tätigkeit gibt es aber ab und zu einen Apfel,
auch schon einmal Zigaretten, die er damals als Nichtraucher, in der Küche
gegen eine Konservendose voll Suppe eintauschen kann. Das bisschen zusätzliche
Essen teilt er mit seinem damals bereits 72jährigen Schwiegervater, den er an
diesem grauenvollen Ort zufällig wieder getroffen hatte: Dank dieser
Unterstützung sollte auch der alte Mann das Lager überleben.
Barackenalltag
In der engen Baracke. in der Horst „lebt“,
sind 1943 304 Häftlinge untergebracht. Horst betont, dass hierunter 41 Juden
waren. Die überwiegende Mehrheit waren aber (auch deutsche) Kommunisten,
Sozialdemokraten, Bibelforscher, Zigeuner, Polen, Russen etc. Er betont immer
wieder, dass nicht nur seines Volkes, sondern aller Opfer des Naziregimes
gedacht werden müsse.
80 Zentimeter Pritsche, und das
vierstöckig Übereinander, mussten sich hier jeweils zwei Menschen teilen, wobei
die Füße des einen am Kopf des anderen lagen. Für eine Pritsche war auch nur
eine Decke da. Ganz schlimm wurde das Barackenleben ab Mitte 1943, als sich die
Niederlage Nazi-Deutschlands anzubahnen begann. Im Zeichen der totalen
Kriegsführung wurden nunmehr zusehends Gefängnisse und Zuchthäuser auch von
gewöhnlichen kriminellen Elementen freigemacht, um diese Gebäude als Lazarette
nutzen zu können. Diese Menschen kamen nun auch in die Konzentrationslager.
Egal welche Verbrechen sie auch begangen hatten, ob sie Meuchelmörder,
Lustmörder, Raubmörder oder Zuhälter gewesen waren: waren sie „Reichsdeutsche“,
so galten sie als „Arier“ und wurden deshalb von der Lagerleitung bevorzugt
behandelt. Diese Verbrecher bekleideten oftmals den Posten eines Block- oder Lagerältesten
oder waren als Essensholer tätig. In der Baracke hatten sie die besten
Schlafplätze nahe am Eingang. Dort war die Atemluft noch erträglich, ganz
hinten im letzten Winkel waren die Juden untergebracht.
Ungesühnter
Mord für ein paar Zigaretten
Horst schildert ein Beispiel, das die
Unfassbarkeit des Lagerlebens verdeutlicht. In der Baracke war Typhus ausgebrochen,
und eines Tages hatten zwei polnische Juden, die ihre Exkremente nicht mehr bei
sich behalten konnten, ihre Lagerstatt so voll gemacht, dass es entsetzlich
stank. Das bekam natürlich auch der Blockälteste mit, ein brutaler Berliner
Zuhälter. „Wer von Euch hat hier geschissen?“ brüllte er die beiden
verängstigten Männer an. Diese, des Deutschen nicht mächtig, antworteten auf
jiddisch. „Irr niecht“ und „irr auch niecht, Herr Blockältester“, worauf der
Fragende die beiden zu Gerippen abgemagerten Menschen brutal mit den Köpfen so
aneinander stieß, dass sie zu Boden fielen. Schließlich stellte er sich auf
deren Gurgel, bis der Tod eintrat. Dieser Doppelmord hatte in den Augen des
Blockältesten durchaus einen Sinn. Einer der jüngsten Barackeninsassen musste
diesem Unhold sexuell zu Diensten sein. Der bekam jetzt die Aufgabe, die Decke
von den Fäkalien zu säubern und zu trocknen. Beim Ausrücken zur Arbeit schlang
er sich die Decke um den Körper und tauschte sie bei einem polnischen
Zivilarbeiter gegen ein Stückchen Margarine und zwei Zigaretten ein! Mord im
Lager, ohne dass sich die SS die Finger selbst dreckig machte.
Beim obligatorischen Zählappell am Nachmittag
hatte dann der Blockälteste nur zu melden: „Baracke 24, so und soviel
Häftlinge, zwei tot, Stärke stimmt“. Damit war die Angelegenheit dann auch für
den Lagerleiter, damals einem gewissen Schöttel, erledigt.
Begreiflich ist, dass für viele der
eingesperrten Menschen die Situation im Lager so unerträglich war, dass sie
selbst ihrem Leben im Elektrozaun ein Ende setzten.
Elise
Fraipont aus Eupen
Das Leben der Insassen hing am seidenen
Faden, der Unmut eines SS-Mannes konnte es schnell beenden. Wollte etwa jemand
bei der Arbeit austreten, so hatte er seine Nummer auszurufen. Bei Horst hieß
das: „Jude 117648 bittet austreten zu dürfen“. Dieses Ansinnen konnte dann
gestattet werden, es konnte auch heißen „mach, dass du wegkommst!“ Gerade
betrunkene SS-Leute richteten dann aber auch gezielt ihre Waffen auf die Leute:
„Auf der Flucht erschossen“ hieß es dann, öffentliche Hinrichtungen für die
geringsten „Vergehen“ waren an der Tagesordnung. Eines Tages traf es auch eine
Elise Fraipont aus Eupen. Horst hat nach dem Krieg versucht, ihrem Schicksal
nachzugehen, doch kein Mensch hier vor Ort konnte (oder wollte) ihm sagen, wer
diese Frau war...
Leidensweg
in weiteren Lagern
Mitte Januar 1945 gehen die
Sowjettruppen in Polen zur entscheidenden Großoffensive über. Auch die
Befreiung von Auschwitz und seinen Nebenlagern stand unmittelbar bevor. Die SS
will keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Die Krematorien werden gesprengt,
viele Kranke und nicht transportfähige Menschen in letzter Sekunde noch
ermordet. Andere, die noch in der Lage waren, für die Nazi-Kriegsmaschinerie
Arbeit zu verrichten, werden unter Aufbietung aller Brutalität Richtung Westen
in Marsch gesetzt. Mit einem Güterwagen kommt Horst nunmehr in das
Konzentrationslager Flossenbürg in Oberbayern, und als das Kriegsende nur noch
eine Frage von Tagen sein kann, in das Außenlager Ganacker, in dem bereits
viele Belgier inhaftiert waren.
Dort riecht auch der Kommandant das
baldige Ende des Naziregimes. Er empfängt die Neuankömmlinge fast liebenswürdig
und betont, hier werde niemand geschlagen, sie seien durch ihre
Freiheitsberaubung schon genug geschlagen.
Befreiung
Nach wenigen Tagen heißt es wieder
abrücken, denn die Amerikaner stehen in der Nähe. Eingeteilt in Gruppen zu dreißig
Personen und bewacht von alten Männern, die man noch kurz vor Kriegsende in
SS-Uniformen gesteckt hat, geht es in ein Waldgebiet. Ein Geistlicher, der die
Gruppe entdeckt und auch erkennt, um was für Menschen es sich da handelt,
bringt sie bei einem Großbauern im Heu unter und sorgt auch für Verpflegung,
wie sie die armen Gefangenen
seit ihrer Festsetzung nicht
mehr zu sehen bekommen haben.
In der darauf folgenden Nacht fliegt
die Tür auf: Amerikaner stürmen in die Scheune. Die schlafenden SS Leute werden
auf der Stelle erschossen. Dafür hat Horst auch heute noch kein Verständnis,
doch der befehlende Offizier erklärte damals: „..Ich habe davon gelesen, ich
habe davon gehört, aber ich hab das noch nicht gesehen ..."
Die ehemaligen Häftlinge werden
zunächst bei Bauern in der Umgebung untergebracht, wobei von den Befreiern
peinlich genau darauf geachtet wird, dass diese Menschen, denen soviel Unheil
angetan worden war, auch bevorzugt behandelt werden.
Zurück
nach Belgien
Mit dem Flugzeug geht es zunächst nach
Brüssel, wo Prinz Charles die Rückkehrer in französischer, flämischer und auch
in deutscher Sprache begrüßt. Er bedauert aber, ihnen mitteilen zu müssen, dass
sie zunächst nach Arlon kämen, wo dann festgestellt werde, wer von ihnen denn
auch in Belgien bleiben dürfe.
In der Hauptstadt der Provinz Luxemburg
wird dann jeder Ankömmling einzeln streng überprüft. Horst bekommt eine
Identitätskarte, 8000 Franken Soforthilfe und eine Fahrkarte nach Brüssel.
SS-Freiwilligen erging es nach den Angaben von Horst aber anders: man stellt sie
nach ihrer Entdeckung an die Wand, durchsucht sie, führt sie ab, und bald
darauf ist aus dem Hof ein durchdringendes „Peng, Peng“ zu hören.
Wiedersehen
mit Van Zuyt
In Brüssel erfährt Horst, dass von
seinen direkten Angehörigen nur sein Sohn überlebt hat. Mit
Gelegenheitsarbeiten u.a. als Hilfskellner sichert er sich zunächst den
bescheidenen Lebensunterhalt. Als ihn ein des Deutschen nicht mächtiger, aus
Polen stammender Jude fragt, ob er ihn auf einer Handelsmesse in Eupen
vertreten kann, nimmt Horst, obwohl er gar nicht richtig weiß, wo Eupen liegt,
das Angebot an. Dort trifft er auch seinen alten Bekannten Van Zuyt wieder, der
es hier inzwischen zum Polizeikommissar gebracht hat. Auch er hatte schwer
unter den Nazis zu leiden, war ebenfalls in ein Konzentrationslager verbracht
worden.
Van Zuyt überlebte die Befreiung nur um
wenige Jahre.
Horst trifft in Eupen nicht nur Van
Zuyt wieder, sondern lernt hier auch seine zweite Frau kennen, die er ebenfalls
überleben sollte. Zunächst verkauft er Zeitschriften, später wird er als Wirt
eine stadtbekannte Figur in Eupen.
„Wiedergutmachung“
In den fünfziger Jahren betreibt Horst
seine „Wiedergutmachungsansprüche“ in Deutschland. Für seine Sklavenarbeit im
Konzentrationslager bekommt er eine einmalige Abfindung von 5000 DM.
Bei den Ärzten, die die Folgen seiner
erlittenen Torturen begutachten sollen, hat er oftmals den Eindruck, dass sie
unbeschadet aus der Nazizeit in das neue Deutschland herübergekommen waren, und
entsprechend spielen sich auch einige ihm gegenüber auf.
Als anerkanntes Opfer des Nazi-Regimes
erhielt Horst bis zu seinem Lebensende eine mehr als bescheidene - ja
beschämende - Rente von monatlich nicht einmal 900 DM aus Deutschland! Da Horst
in Belgien das Statut eines Deportierten und nicht eines, politischen
Gefangenen hatte, ging er hier dazu noch nahezu leer aus.
Dank
Dank gilt Horst über den Tod hinaus,
dass er über all das Unfassbare, das ihm widerfahren ist, nicht geschwiegen
hat. Für viele war er nur ein unbequemer Mahner, der auch nicht davor
zurückschreckte, selbstgefälligen Politikern seine Meinung zu sagen.
Gerade im Jahr der fünfzigsten
Wiederholung der Befreiung des Landes und der Lager, ist er durch Interviews,
die er gegeben hat und durch Presseberichte auch bei der hiesigen Jugend
bekannt geworden. Die Schilderung seines Leidensweges, seine damit verbundenen
Aufrufe, alles zu tun, dass so etwas noch einmal geschehe, haben, wie mir
vielfach versichert worden ist, gerade bei vielen Jugendlichen einen starken
und bleibenden Eindruck hinterlassen.